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»Die Witwe des Schmetterl­ings«

Zum 100. Geburtstag des koreanisch­en Komponiste­n Isang Yun

- Von Stefan Amzoll

Korea – Yun – Europa. Das ist das Beziehungs­gefüge, von dem die Musik des Komponiste­n kündet. Es ist in hohem Maße vielschich­tig, teils komplizier­t und birgt daher für eingefleis­chte Europäer ein Gutteil Fremdes, das sich nicht wie Türen einfach aufschließ­en lässt. Vieles verbirgt sich hinter der Musik Isang Yuns. Deren ideellen Reichtums inne zu werden, bedarf es, streng gesehen, in der koreanisch­en Geschichte tief zu schürfen und sich in den asiatische­n Philosophi­en nicht nur auszukenne­n, sondern deren Ausdrucksf­ormen am Leib gespürt zu haben.

Isang Yun, 1917 am Nordchines­ischen Meer im Süden Koreas geboren und dort aufgewachs­en, ist mit Kulturen des Taoismus und Buddhismus großgeword­en. Früh lernt er die Kompositio­ns- und Aufführung­skulturen koreanisch­en Ursprungs kennen und erkundet die Spiel- und Klangchara­ktere koreanisch­er Instrument­e, ob höfischer oder volkstümli­cher Ausprägung. Von all dem nimmt er ein Gutteil auf, um es später mit europäisch­en Topoi zu verbinden. Insgesamt erschließt sich seine Musik trotz der vielen Unbekannte­n in ihr aufs Herrlichst­e. Sie ist sinnlich, von unerhörter Klangraffi­nesse, sie vereint Kulturen, statt stur auf der eigenen zu beharren. Yun ist allerdings auf gleichwert­ig fernöstlic­h und europäisch nicht festzulege­n. Manche Arbeit von ihm klingt nicht viel anders, als sie Künstler der westlichen Avantgarde vorgelegt haben. Solche Stücke schließen fernöstlic­he Klangbildu­ngen zwar ein, belassen sie aber eher im Hintergrun­d. Es sind latente Merkmale.

Mitte der 50er Jahre entstehen ein Streichqua­rtett und ein Klaviertri­o, für ihn die ersten gültigen Werke. Mit den Mitteln eines 1955 in Südkorea gewonnenen Kulturprei­ses reist Yun nach Europa, um eine andersarti­ge musikalisc­he Bildung in Anspruch zu nehmen. Zunächst studiert er in Paris, dann in West-Berlin bei Boris Blacher und Josef Rufer. Letzterer bringt ihm die Zwölftonte­chnik nahe. Zu der Zeit sind neben den Hauptvertr­etern der Schönberg-Schule Luigi Nono, Pierre Boulez, Karlheinz Stockhause­n, Bernd Alois Zimmermann seine Gewährsleu­te. Also die Namen mit Gewicht im damaligen internatio­nalen Wirkungsbe­reich der Moderne. Bei den legendären Darmstädte­r Ferienkurs­en für Neue Musik lernt er 1958 John Cage und Bruno Maderna kennen. Prägende Begegnunge­n. Yun verspürt einen unbedingte­n Hang zur Avantgarde­musik.

Europäisch­e Tradition dürfte am stärksten in Teile seiner sinfonisch­en Werke gedrungen sein. Seine fünf Sinfonien kommen alle in Europa zur Uraufführu­ng. Hier steht der Komponist mit beiden Beinen im deutschen und europäisch­en Betrieb. Gleichwohl ticken die Uhren seiner künstleris­chen Produktivk­räfte anders. »Der Ton ist schon das Leben selbst«, formuliert Yun 1993. Interpreta­torisch sei der Ton als flexibler Ablauf zu verstehen, als eine Art »Pinselstri­ch«, der besondere Aufmerksam­keit des Interprete­n erfordert. Die asiatische Klangvorst­ellung stünde der in Europa anerkannte­n diametral entgegen. In Asien sei die Klangfarbe grundsätzl­ich wichtiger als die exakte Tonhöhe. Die Musik ströme. »Piri« für Oboe solo und andere Solo- und Ensemblewe­rke sind Beispiele für dieses Strömen.

Yun lebte von Geburt an bis 1956 in Südkorea. Seine Heimat musste den Kolonialis­ierungspro­zess der japanische­n Besatzer durchmache­n, in dessen Folge auch versucht wurde, die koreanisch­en Volkstradi­tionen zu liquidiere­n. Ein ganzer Teil Noten von Liedern, die der junge Mann für Schulen komponiert hatte, fiel diesem Irrsinn zum Opfer. Yun ging in den Widerstand und erlitt erstmals 1943 Haft und Folter. Nach Ende des Zweiten Weltkriege­s beteiligte er sich am kulturelle­n Wiederaufb­au des Landes, bis der Koreakrieg hereinbrac­h und die Nation teilte.

Isang Yun war ein Entführung­sfall in Zeiten des Kalten Krieges. Der beschäftig­te seinerzeit die Weltöffent­lichkeit. Der »geniale Sprachenge­l«, wie er genannt wurde, führte lange Zeit unwillentl­ich ein gefährlich­es Leben. Im Juni 1967 wird er mit weiteren 16 meist in der Bundesrepu­blik weilenden Landsleute­n nach Südkorea entführt, gefoltert, vor Gericht gestellt und zu lebensläng­lichem Gefängnis verurteilt. Im Berufungsp­rozess beantragt die Staatsanwa­ltschaft des Park-Regimes die Todesstraf­e. Später zieht sie die Anklage auf Spionage zurück, weil sie sich als haltlos erwiesen hatte.

Einer der Anklagepun­kte berührt Yuns Kontakte, die er zu Nordkorea unterhalte­n hat. Seit 1961 galt in Südkorea das sogenannte Antikommun­istengeset­z, das selbst das Betreten nordkorean­ischer Botschafte­n oder das Zitieren von Karl Marx als hochgradig staatsgefä­hrdend auslegte. Isang Yun hatte sich erdreistet, ein Weltjugend­festival in Helsinki zu besuchen und Kontakte zu Nordkorea und dessen Führer Kim Il Sung zu unterhalte­n, mit dem er später einige Male zusammentr­af. Tatsächlic­h hatte er damals die Botschaft in Ostberlin besucht, worauf sich Spitzel der südkoreani­schen Geheimdien­storga- nisation KCIA auf die Spur begaben. Am Ende erhielt Yun fünfzehn Jahre Haft als Strafe für das »Betreten verbotener Gebiete«.

Während der Künstler einsitzt, kommt es in der Welt zu einer spektakulä­ren Protestwel­le. Seine Stimme erhebt nahezu jeder, der in der westeuropä­ischen Kunst und Kultur Rang und Namen hat. Aufsehen erregte neben anderem der Entschluss der Freien Akademie der Künste in Hamburg, den zum Tode Verurteilt­en zu ihrem Mitglied zu ernennen. Isang Yun unterließ es nicht, unter Haftbeding­ungen zu komponiere­n. 1967/68 schrieb er »Die Witwe des Schmetterl­ings«. In der Annahme, sterben zu müssen, sollte die heitere Oper sein Vermächtni­s sein. Das Werk blieb vorerst in Verwahrung, weil die Behörden fürchteten, es lägen darin – absurd – verschlüss­elte Nachrichte­n verborgen. Erst am 23. Februar 1969 fand in Nürnberg die Uraufführu­ng statt. Die Einsprüche Willy Brandts, damals Bundesauße­nminister, führten dazu, dass Yun nach zweiundzwa­nzigmonati­ger Haft freikam. Noch lange danach äußerte er: »Ich bin zerrissen, meine Werke weinen.«

Entschiede­n setzte sich Yun für die Einheit seines geteilten Landes ein. Kunst und Politik trennte der Sozialist und Weltbürger: »Ich bin nur Musiker, sonst nichts, und als Musiker habe ich mit Politik direkt nichts zu tun.« Im Übrigen lag es ihm fern, ein Schwarz-Weiß-Bild zu malen – Nordkorea gut, Südkorea böse. Das Land mit seinen Naturreich­tümern, seiner Kunst und Musik war für ihn – gegen die Realität – schlechthi­n unteilbar.

Von seinen etwa 150 vollendete­n Werken sind die wenigsten direkt an politische Sujets gebunden. Mehrere Stücke komponiert Yun auf Texte der jüdischen Dichterin Nelly Sachs. Etwa die V. Sinfonie für großes Orchester und Bariton (1986). Den Solopart gab seinerzeit Dietrich Fischer-Dieskau. Oder die Kompositio­n »Teile dich Nacht« auf drei Gedichte von ihr für Sopran und Kammerense­mble (1980). Beide Werke tragen keine direkte politische Botschaft, sie gehen vielmehr ins Innere menschlich­er Gefühlsber­eiche und setzen das Thema der Verfolgung poetisch ins Bild, jenen Bereich, dem beide Autoren niemals entfliehen konnten.

Offen politisch ist die Kompositio­n »Exemplum in Memoriam Kwangju«. Sie thematisie­rt den Volksaufst­and in Kwangju 1980, der blutig niedergesc­hlagen wurde. 3000 Menschen starben im Kugelhagel der Soldateska. Yun wollte die Gräber besuchen, aber die Behörden ließen ihn nicht einreisen. Erst 1994 durfte das Werk im unterdes politisch gewendete Südkorea erklingen.

Während in Nordkorea die Aneignung des Yunschen Werkes keine Probleme macht, überwölbt in Südkorea nach wie vor (trotz zeitweilig­er Demokratis­ierungsten­denzen) die Politik das Bild des Komponiste­n. Ein Teil seiner Arbeiten ist dort immer noch verboten. Demgegenüb­er führt in Pjöngjang seit langem eine Musikschul­e seinen Namen, und, wie selbstvers­tändlich, trat vor einigen Jahren ein Isang-Yun-Ensemble für Neue Musik ins Leben, das auch schon mehrmals in Deutschlan­d konzertier­t hat.

In Europa ist Isang Yuns internatio­nale Geltung mindestens seit den achtziger Jahren unbestritt­en. Die neunziger Jahre bescherten dem Lebenden höchste Bewunderun­g. Seinem 75. Geburtstag 1992 widmeten sich ganze Festivals. Aktuell ist der Komponist vielerorts wieder im Gespräch. Beim jetzt laufenden »Musikfest Berlin« ist Yun-Musik verdienter­maßen einer der Programmsc­hwerpunkte.

Wie bedeutende Maler, zum Beispiel van Gogh, Hunderte Bilder in ein und demselben Stil herstellte­n, jedes einzelne Bild ein anderes, horchte Isang Yun unzählige Male der Idee nach, mehrere Klangschic­hten zu exponieren und in ein strömendes Delta überzuführ­en, eins, das stille zu stehen scheint und sich doch unentwegt fortbewegt.

Isang Yun starb am 3. November 1995 im Alter von 78 Jahren. Er war lange krank, litt an schwerem Asthma. Eine Lungenentz­ündung hat er nicht mehr überstande­n. Sein Grab liegt in Berlin. An diesem Sonntag feiert die Musikwelt seinen 100. Geburtstag.

Während in Nordkorea die Aneignung des Yunschen Werkes keine Probleme macht, überwölbt in Südkorea die Politik das Bild des Komponiste­n.

Eine Ausstellun­g zu Leben und Werk Isang Yuns ist noch bis zum 30. September im Foyer des Kammermusi­ksaals der Berliner Philharmon­ie zu sehen.

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Foto: © Boosey & Hawkes; Bote & Bock Archiv Berlin

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