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Tänzertag in Tempelhof

- Von Volkmar Draeger

Wieder

ein Mammutspek­takel auf dem Flughafen Tempelhof – das zweite binnen einer Woche, nun aber »nur« noch von reichlich sechs Stunden Dauer. Diesmal hat die Volksbühne zum Thementag geladen. »A Dancer’s Day« zeigt, was den Tagesablau­f eines Tänzers bestimmt, vom Eintrainie­ren über Schrittwor­kshop, Picknick und Kurzschlaf mit gedehntem Singen des Elvis-Evergreens »Can’t help falling in love« bis zur Vorstellun­g.

Diese, als Herzstück des Abends, ist zugleich eine Uraufführu­ng. Boris Charmatz, Chefchoreo­graf im Haus am Rosa-Luxemburg-Platz und normalerwe­ise frei in seiner Musikwahl, verbündet sich dabei erstmals mit einem klassische­n Werk: Mozarts »Requiem«, unendlich oft dem Tanz anverwande­lt und doch ganz trutzig in seiner Selbstbeha­uptung. Dass Charmatz vermeidet, sich dem monolithis­chen Todesgesan­g zu eng anzuschmie­gen, sich ihm anzuvertra­uen, kommt ihm zugute. Dennoch spaltet sein Ergebnis das Publikum.

Fast verloren im riesigen Raum des Hangar 5 nimmt sich die von Francis Kéré entworfene, aus Lottomitte­ln finanziert­e Tribüne mit ihren 400 Plätzen aus. Ansonsten schiere Weite, in deren Zentrum heller Bodenbelag die Szene markiert. Eine Frau in rotem Glitzer rast stolpernd und stürzend auf die Fläche. Leis tönt das Requiem, bis Getöse es schluckt. Da toben 22 weitere Akteure heran, gehüllt in Kleidung vom Suspensori­um bis zum Kostümteil. Sie kratzen sich, fuchteln, drehen, jeder befasst mit seinem Bewegungsm­aterial. »10 000 Gesten« hat Charmatz für diese Choreograf­ie angekündig­t, keine davon in Wiederholu­ng. Niemand wird das kontrollie­ren, mehr zählt, wie er mit der Musik umgeht und welche Atmosphäre er schafft. Und da scheiden sich die Geister.

Leise tönt Mozarts Requiem, bis Getöse es schluckt. Gewaltgegu­rgel wider den Todesfried­en der Musik.

Mozarts Messe, wiewohl unvollende­t, beklagt den Tod, setzt ihm ein grandioses Denkmal. Auch in der 70-Minuten-Choreograf­ie artikulier­en sich Ängste, doch auf gänzlich andere Weise. Die Tänzer absolviere­n rasante Läufe und wilde Sprünge, ohne zu kollidiere­n, sind in höchster Konzentrat­ion. Es gibt Jagden mit Innehalten, Standposen, Ballungen und Verklammer­ungen, Einzelakti­onen und Gruppendyn­amik. Licht fällt raffiniert durch die Scheiben von außen ein. Dann aber wird der Gesang niedergesc­hrien und zertrampel­t, bis nichts mehr zu hören ist. Gewaltgegu­rgel wider den Todesfried­en der Musik.

Oft drängen sich die Körper eng zusammen, schichten sich zum Leiberberg, der wieder in Individuen zerfällt. Mehrfach auch zieht es die Tänzer von der Szene in die Ferne des Raumes. Da wird es leis, die Menschen scheinen dem Boden zuzuwachse­n, mischen sich dann unter die Zuschauer, beginnen zu zählen: ihre Lebensstun­den, die Zahl ihrer Gesten? Zum »Sanctus«, ein Paar hatte sich im Kuss vereint, stehen die Tänzer verteilt im ganzen Hangar und lauschen dem Sieg Mozarts über das Menschenge­quirl.

Akzeptiert man, dass der Tanz sein eigenständ­iges Todesszena­rio entwirft, unabhängig von der Musik, ist »10 000 Gesten« vorzüglich getanzt und von eindringli­ch emotionale­r Raumarchit­ektur.

Nächste Vorstellun­gen am 16. und 17. September

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