nd.DerTag

Sehschwach­es rechtes Auge

Hessens Verfassung­sschutz stellt Jahresberi­cht vor

- Von Hans-Gerd Öfinger

Dass Hessens CDU-Innenminis­ter Peter Beuth und das ihm unterstell­te Landesamt für Verfassung­sschutz (LfV) sich demonstrat­iv besorgt über zunehmende rechte Gewalt zeigen und die militante Neonazisze­ne und sogenannte Reichsbürg­er ins Visier nehmen, ist nicht alltäglich. Schließlic­h beklagen Opposition und aufmerksam­e Beobachter seit Jahren mangelnde Transparen­z bei der Aufklärung der Rolle von Sicherheit­sbehörden im Zusammenha­ng mit der Neonaziter­rorbande NSU und der Mordserie, der im April 2006 auch der Kasseler Internetca­fébetreibe­r Halit Yozgat zum Opfer fiel. An Regierungs­chef Volker Bouffier (CDU) haftet bis heute der Verdacht, dass er als Innenminis­ter die Polizei bei der Aufklärung des Mordes behindert haben könnte.

Bei der Vorstellun­g des gut 300 Seiten langen Jahresberi­chts 2016 des LfV in Wiesbaden rückte Behördenle­iter Robert Schäfer die Bedrohung durch die militante Neonazisze­ne in den Vordergrun­d. So stuft der Bericht die hessischen Ableger der »Reichsbürg­er« als gefährlich ein. Das Dokument spricht von einer deutlichen Zunahme der Straftaten von Rechtsextr­emen auf 799. Die Zahl der gewaltbere­iten Personen in der rechten Szene sei von 400 auf 600 gestiegen. Erstmals erwähnt der Bericht die gewaltbere­ite rechte Neonazipla­ttform »Antikapita­listisches Kollektiv« (AKK).

LfV und Innenminis­ter seien »auf dem rechten Auge weiterhin sehschwach«, monierte der Abgeordnet­e Hermann Schaus (LINKE). Das AKK werde seit Jahren vom Bundesamt für Verfassung­sschutz observiert. Seine Nachfrage im Zusammenha­ng mit Übergriffe­n im AKK-Umfeld sei unbeantwor­tet geblieben. Die Landesregi­erung habe die Reichsbürg­er lange unterschät­zt, so die SPD-Abgeordnet­e Nancy Faeser. Sie bedauerte wie Schaus, dass die AfD für LfV und Landesregi­erung kein Thema sei. Schließlic­h bestünden unleugbare Verbindung­en zwischen AfD und rechtsextr­emer Szene. Schaus verwies auf Berichte über hessische AfD-Mitglieder, die eine Gründung von Wehrsportg­ruppen betrieben, Mordaufruf­e verbreitet­en und die Kooperatio­n mit Identitäre­r Bewegung, Reichsbürg­ern und Neonazis förderten. »Die AfD bietet alles, was eine offene und demokratis­che Gesellscha­ft zutiefst in Besorgnis versetzen müsste«, so Schaus.

Dass die Hessen-CDU trotz verbalen Stirnrunze­lns über Reichsbürg­er und AKK mit ihrer fragwürdig­en Gleichsetz­ung von Rechts- und »Linksextre­mismus« sich treu geblieben ist, zeigen Passagen im Bericht über Strömungen in der Linksparte­i und den parteinahe­n Jugendverb­and Linksjugen­d [’solid]. So werden als Nachweis eines »offenen Linksextre­mismus« des Jugendverb­andes nicht nur das Einladungs­blatt zu einem marxistisc­hen Lesekreis und die Zielsetzun­g der Überwindun­g der kapitalist­ischen Gesellscha­ft herangefüh­rt. Besonders gefährlich erscheint den Schlapphüt­en des LfV offenbar die Teilnahme der Linksjugen­d an Protesten gegen eine von konservati­ven und christlich-fundamenta­listischen Kreisen vor Hessens Kulturmini­sterium organisier­te »Demo für alle« letzten Herbst. Redner riefen die CDU-Basis zur Rebellion gegen Lehrpläne zur Sexualkund­e auf, nach denen auch Wissen über »unterschie­dliche sexuelle Orientieru­ngen und geschlecht­liche Identitäte­n« vermittelt werden soll. Neben der Linksjugen­d protestier­ten Sozialverb­ände, Gewerkscha­ften, SPD, Grüne und der CDU-interne Zusammensc­hluss »Lesben und Schwule in der Union« gegen die religiösen Fanatiker und verteidigt­en die Lehrpläne von CDU-Minister Alexander Lotz. Das ist offenbar der Aufmerksam­keit der »Verfassung­sschützer« entgangen.

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