Hi Chef, wie geht’s dir?
In immer mehr Unternehmen duzen sich die Mitarbeiter. Die Frage ist, entstehen dadurch tatsächlich flachere Hierarchien oder wird eine Rangordnung nur verschleiert?
Zu einer Zeit, da ich selbst noch zu »guten Manieren« erzogen wurde, durften Menschen sich nur unter besonderen Umständen duzen. Nämlich wenn sie jung waren, miteinander verwandt oder anderweitig eng verbunden. Manchmal gehörten sie auch derselben Partei an, in der das gegenseitige Du ideologische Einmütigkeit signalisieren sollte. Ansonsten schrieben die Anstandsregeln vor, dass eine unbekannte, erwachsene Person unbedingt mit Sie anzureden sei.
Das hat sich inzwischen vielerorts geändert. Zumal auch die Bedeutung dessen, was Anstand ist, seit Jahren einem permanenten Wandel unterliegt. Denn es fehlen heute schlicht die Institutionen, die für alle verbindlich festlegen, wie man sich korrekt verhält. Sofern Eltern dies ihren Kindern nahezubringen versuchen, ernten sie oft nur ein müdes Lächeln. Maßgeblichen Anteil an dieser Entwicklung hat das Internet. Im Netz findet die Kommunikation nur noch virtuell und immer häufiger anonym statt. Und die typische Anredeform unter anonymen Usern ist das Du. Wer andere siezt, gilt als steif, verspannt oder irgendwie aus der Zeit gefallen.
Auf diesen Zug, der Modernität verheißt, ist mittlerweile auch die Wirtschaft aufgesprungen. Das DuWort sei »in jungen, dynamischen Unternehmen nicht mehr wegzudenken und wird bewusst eingesetzt, um Nähe und partnerschaftliches Zusammenarbeiten zu fördern«, heißt es beispielsweise auf der Online-Plattform »unijobs.at«. Aber auch in Traditionsunternehmen folgt man diesem Trend. Vorreiter hierbei war der Möbelkonzern Ikea, in dem sich nicht nur die Kollegen duzen. Die Kunden werden ebenso einbezogen: »Wohnst du noch, oder lebst du schon?« Für Aufsehen sorgte im letzten Jahr Hans-Otto Schrader, der Vorstandsvorsitzende der Otto Group, als er den 53 000 Mitarbeitern des deutschen Dienstleistungskonzerns ebenfalls das Du anbot. Zugleich ließ der Konzernchef wissen, wie er selbst angesprochen werden möchte: »Meine Bedingung für den Duz-Vorschlag war, dass mein Kurzname Hos – für Hans-Otto Schrader – verwendet wird. Der klingt doch frischer als Hans-Otto. Und Hos höre ich jetzt tatsächlich öfter.« Witzige Sprüche machten alsbald die Runde: »Unser Boss heißt jetzt Hos.« Quer durch die Belegschaft darf mittlerweile auch in anderen Unternehmen geduzt werden, bei Lidl, Kaufland, Baur, Witt etc. Inflationäres Duzen als neue Knuddeltherapie
Mit der Einführung des Du-Worts wollen deutsche Unternehmen nach eigenen Angaben einen »Kulturwandel 4.0« herbeiführen, der sich an anglo-amerikanische Vorbilder anlehnt. Denn im Englischen gibt es bekanntlich nur eine Anrede: you. Aber wie ist diese gemeint? Hier lohnt ein Blick in die Geschichte. Ähnlich wie im Deutschen gab es ursprünglich auch im Englischen eine Art Du/Sie-Modell: thou/you. Mit der Zeit jedoch verschwand das dem Du entsprechende »thou« aus dem Sprachgebrauch. Es findet sich heute nur noch in der historischen Literatur, etwa bei Shakespeare, oder im Kirchenenglisch. Das heißt, wenn Briten sich mit »you« anreden, siezen sie sich de facto. »Wollte das Mutterland der Demokratie gar ein Musterland sprachlicher Gleichheit werden«, fragt der Linguist Werner Besch und antwortet selbst: »Die soziale Struktur spricht dagegen.«
In Deutschland geben Konzernchefs vor, mit der Einführung des Du ein stärkeres Wir-Gefühl im Unter-
nehmen erzeugen zu wollen. In Wirklichkeit jedoch werden die sozialen Hierarchien dadurch nicht angetastet. Sie werden nur verschleiert. Das wiederum geschieht in unserer Gesellschaft inzwischen häufig: Statt direkt auf eine Veränderung sozialer Missstände hinzuwirken, wird versucht, diese mittels sprachlicher Kosmetik erträglicher zu gestalten. Doch ein verändertes Personalpronomen ist kein Ersatz für mehr Rechte der Beschäftigten, wie sie gerade in den großen deutschen Handelsketten seit langem eingefordert werden.
Normalerweise erlaubt der Ältere dem Jüngeren, ihn zu duzen. In den genannten Unternehmen spielt das Alter indes keine Rolle. Hier bietet der Ranghöhere in einer Art Gnadenakt dem Rangniederen das Du an. Ein Kulturwandel findet dabei nicht statt, denn das Machtgefälle zwischen oben und unten bleibt erhalten. Wenn der Chef einen Mitarbeiter anfährt: »Sie machen gefälligst, was ich sage«, klingt eine solche Weisung auch in der Duz-Form nicht verbindlicher. Die meisten Beschäftigten sind von einer Veränderung der betrieblichen Anredeform ohnehin nicht begeistert. Laut einer Umfrage legen rund zwei Drittel der Deutschen keinen Wert darauf, ihre Chefs zu duzen, und sie wollen von diesen auch nicht geduzt werden.
Gelegentlich heißt es, dass unter Mitarbeitern, die sich duzten, ein partnerschaftliches Klima herrsche. Das wiederum führe zu mehr gegenseitigem Vertrauen und bringe bessere Arbeitsergebnisse hervor. Eines konnte in Studien tatsächlich belegt werden: Duzen hat einen positiven Einfluss auf die Fehlerkultur. Das heißt, weil man auf das Verständnis der anderen hofft, gibt man Fehler und Schwächen eher zu. In einer Siezkultur liegen die Hemmschwellen hierfür in der Regel höher.
Gleichwohl befürchten viele Menschen, dass mit dem Verzicht auf die Anredeform Sie auch der gegenseitige Respekt schwindet. Sich spontan zu duzen, mag in manchen Situationen zur Entspannung beitragen und eine vertrauliche Nähe zwischen Personen herstellen, die eigentlich gar nicht besteht. Andererseits wirkt ein vorschnelles und einseitiges Du oftmals deplatziert. Besonders wenn es gegenüber Menschen geäußert wird, die sich in einer sozial benachteiligten Position befinden: Obdachlose, Hartz-IVEmpfänger, Migranten, Alte, Behinderte. Hier wird demonstratives Duzen gewöhnlich als persönliche Diskriminierung empfunden.
Es wäre schade, wenn ähnlich wie einst in England auch in Deutschland die Anredeform Sie langfristig aussterben würde. Denn sie bietet die exzellente Möglichkeit, eine respektvolle Distanz zwischen Menschen zu wahren, die Gleichberechtigung und Anerkennung einschließt. Außerdem wirkt sie der Verrohung der Kommunikation entgegen. »Du Idiot!« geht leichter über die Lippen als »Sie Idiot!«. Zu guter Letzt bringt das Wörtchen Sie etwas in unsere Sprache, was weder steif noch antiquiert ist: Eleganz.