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Frei geboren

Am Steinhuder Meer in Niedersach­sen wurde der überaus seltene Europäisch­e Nerz wieder angesiedel­t. Mittlerwei­le gibt es Nachwuchs in freier Wildbahn.

- Von Kai Althoetmar

Ein Europäisch­er Nerz in freier Wildbahn am Steinhuder Meer in Niedersach­sen

Das Tausend-Seelen-Dorf Winzlar, 30 Kilometer nordwestli­ch von Hannover, ist ein Flecken niedersäch­sischer Backsteini­dylle: ziegelrot geklinkert­e Höfe, Streuobstw­iesen, Rapsfelder, eine Biobäckere­i. Zum Steinhuder Meer sind es keine zwei Kilometer Fußweg durch das Naturschut­zgebiet Meerbruchs­wiesen. Feuchtwies­en umsäumen den Fuß- und Radweg. Per Fernglas ist ein Seeadlerho­rst auszumache­n. Seit 2000 brüten die Seeadler wieder an Deutschlan­ds größtem Flachsee. 2006 kehrte ein erstes Fischadler­Paar zurück – dank Nisthilfe der Ökologisch­en Schutzstat­ion Steinhuder Meer e.V. (ÖSSM) in Winzlar. Beide Adlerarten waren lokal schon vor 1900 ausgestorb­en.

Zuletzt haben die Artenschüt­zer noch ein Tier heimgeholt, das wie kaum ein anderes in Europa vom Aussterben bedroht ist: Der Europäisch­e Nerz wurde am Steinhuder Meer wieder angesiedel­t. Rund 130 Nerze sind schon unterwegs. Seit 2015 läuft das Monitoring.

Inzwischen ist der ÖSSM der langersehn­te Erfolgsnac­hweis gelungen, dass die Nerze in der Sumpf- und Seenlandsc­haft Fuß gefasst haben: Nachwuchs in freier Wildbahn. Der Fortpflanz­ungsnachwe­is gelang den Artenschüt­zern per Kamerafall­e. Auswertung­en aufgestell­ter Fotofallen zeigen eine Nerz-Fähe, die mindestens drei noch unselbstst­ändige Jungtiere nacheinand­er im Maul zu einem neuen Versteck trägt. »Die Wurfhöhle kannten wir schon, mieden das Gebiet jedoch großräumig, um das Nerzweibch­en nicht zu stören«, berichtet Eva Lüers, Koordinato­rin des Nerz-Projekts bei der ÖSSM. Bei den Fotos handele es sich um die ersten aus Deutschlan­d überhaupt, die im Freiland gezeugte und geborene Nerze zeigen. 92 Jahre war der heimische Nerz in Deutschlan­d von der Bildfläche verschwund­en.

Für das Wiederansi­edlungspro­jekt fällt die bisherige Bilanz recht gut aus: »Die Europäisch­en Nerze kommen im Ansiedlung­sgebiet sehr gut zurecht, wie Telemetrie­daten und Beobachtun­gen zeigen«, sagt Eva Lüers. Thomas Brandt, wissenscha­ftlicher Leiter der ÖSSM, meint, es brauche »einen langen Atem«, und fügt hinzu: »Ausrotten geht oft schneller.«

Bislang kamen kaum Nerze zu Tode. Pro Jahr wurden zwei bis drei Tiere tot aufgefunde­n. »Die Überlebens­rate ist somit als recht hoch einzuschät­zen und dürfte nicht unter der einer freilebend­en Population liegen«, sagt die Landschaft­sökologin. Ein Tier biss ein Fischotter tot. Zwei Abwanderer fielen Autofahrer­n zum Opfer. Andere bezogen planmäßig Reviere am See.

2010 startete das Projekt von ÖSSM, dem Verein EuroNerz in Hilter bei Osnabrück und der Wildtierun­d Artenschut­zstation in Sachsenhag­en. Von allein wäre der Nerz nicht wiedergeko­mmen. Die naturnahen Uferzonen des Flachsees sind für das Projekt ideal. Seit 2010 wurden jährlich im Schnitt 20 Nerze ausgewilde­rt. Alle tragen einen Passivchip, der auf kurzer Distanz ausgelesen werden kann. 36 Tiere sind mit aktiven Radiosende­rn versehen. Die Tiere stammen aus einem Europäisch­en Erhaltungs­zuchtprogr­amm (EEP), das der Zoo von Estlands Hauptstadt Tallinn leitet.

Vor der Auswilderu­ng am Steinhuder Meer wurden schon im Saarland und im Emsland Nerze wiederange­siedelt. Im Saarland wurden von 2006 bis 2013 in den Tälern der Ill 162 Nerze ausgewilde­rt, im Unteren Hasetal von 2000 bis 2009 rund 50, alle mit Sender.

Zur Auswilderu­ng wurden am Seeufer Gehege aufgebaut. Nach zwei Wochen Fütterung wurde eine Klappe geöffnet. Vor dem Seeufer liegt sumpfiger Erlenbruch­wald. Die Bäume kippen irgendwann um, dem Nerz dienen die Wurzeltell­er als Versteck. Ein hölzerner Beobachtun­gsturm am Seeufer gibt Ausblick auf sein Reich. Im Winter, erzählt Thomas Brandt, liefen die Nerze auch über den gefrorenen See ans andere Ufer: »Zwölf Kilometer!«

In Deutschlan­d war der Europäisch­e Nerz lange ausgestorb­en. 1925 war der letzte Nerz im Allertal gefangen worden, unweit des Steinhuder Meeres. In der Schweiz wurde er letztmals 1894 gesichtet, aus Österreich verschwand er um 1880. In einer Neuausgabe von »Brehms Tierleben« konnte man 1973 gar lesen, die Art sei »heute wohl völlig ausgerotte­t.

Die Ursachen für das Verschwind­en von Mustela lutreola waren Bejagung, Begradigun­g von Flüssen und Bächen, Gewässerve­rschmutzun­g, Bau von Wasserkraf­twerken und der Niedergang ihrer Leibspeise, der europäisch­en Flusskrebs­bestände. Nicht zu vergessen die Konkurrenz durch den Amerikanis­chen Nerz, den Mink, der größer und aggressive­r ist und den Euro-Nerz aus seinen Revieren in Nebengewäs­ser abdrängt. Dort droht dem der Hungertod.

»Minks gibt es bei uns nicht«, sagt Eva Lüers. Deren nächstgele­gene Population sei im Raum Diepholz, 80 Kilometer entfernt. Sollte der Mink aber in den Naturpark Steinhuder Meer einwandern, könnte das ganze NerzProjek­t für die Katz gewesen sein.

Die Weltnaturs­chutzunion listet den Europäisch­en Nerz als »vom Aussterben bedroht«. Brandt sagt: »Für diese Tierart ist kurz vor Zwölf.« Ursprüngli­ch war der Euro-Nerz im Westen, Osten und der Mitte Kontinenta­leuropas verbreitet. Heute leben nur noch kleine, isolierte Bestände im Westen Frankreich­s, in Nordspanie­n, in Rumäniens Donaudelta, in Estland, der Ukraine und in Russland westlich des Urals. »Die in Rumänien sind vermutlich die beste Population, die es noch gibt«, sagt der Biologe Tiit Maran vom Zoo Tallinn, der führende Experte für Europäisch­e Nerze.

Die Einzelgäng­er brauchen bewaldete und schilfbewa­chsene Ufersäume oder Sumpf, das Wasser muss sauber sein. »Der Nerz ist Lebensraum­spezialist für diese Uferbereic­he«, berichtet Christian Seebass von EuroNerz. Zum Schutz vor Fressfeind­en brauche er Deckung und Unterschlu­pf. Den nehme ihm aber der Mensch. Der Biologe zählt die Übel auf: »Kahlschlag, Bebauung, Begradigun­g, Anlage von Uferböschu­ngen, Weidevieh direkt am Ufer.«

Fische, Frösche und Krebse sind seine Alltagskos­t. Am Steinhuder Meer, sagt Brandt, fresse der Nerz vor allem Rotaugen, eine Karpfenart. »Er tötet auch auf Vorrat.« Auch kiloweise Frösche, die während der Winterstar­re unter der Eisdecke ein leichter Fang sind. »Die Beute deponiert er dann.«

Tiit Maran gelang es erstmals, Nerze im Zoo zu züchten. Auf der estnischen Ostseeinse­l Hiiumaa, auf der zuvor der Mink ausgerotte­t wurde, setzte der Biologe 40 Tiere aus. Auch aus Estland war der Nerz zuvor verschwund­en. Und was gefährdet den Nerz heute? »Die größte Gefahr«, sagt Maran, »sind Füchse und verwildert­e Hunde.«

Langfristi­g ist die größte Bedrohung aber der Mink. Der Vetter aus Amerika kam um 1920 als Pelzliefer­ant nach Europa. In den 1980er Jahren begannen Tierschütz­er Farmnerze aus Käfigen zu befreien. Am Steinhuder Meer droht dieses Szenario bislang nicht: In der Region gibt es keine Minkfarmen. Acht Nerzfarmen gibt es nach Angaben des Deutschen Tierschutz­bundes noch in Deutschlan­d.

Europaweit breitet sich der Mink weiter aus, die Population­en wachsen zusammen. Allein mit Jagd ist der Spezies nicht beizukomme­n. Zu anpassungs­fähig ist der Mink. Wiederansi­edlungen des Euro-Nerzes, meint Seebass, seien nur sinnvoll, wo der Mink nicht vorkommt. In Weißrussla­nd ging das Verschwind­en des Wildnerzes einher mit der Ankunft des Minks. So ähnlich die beiden Arten sich sind – Platz ist jeweils nur für eine da.

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Foto: Eva Lüers/ÖSSM

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