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Noch nicht mit der Kolonialve­rgangenhei­t im Reinen

Mord aus Rache wegen Fluchthilf­e für deutsche Legionäre.

- Von Ralf Klingsieck, Paris

Als Emmanuel Macron im vergangene­n Februar während des Präsidents­chaftswahl­kampfs in einem Interview für das algerische Fernsehen einräumte, dass während des Algerienkr­ieges »Verbrechen gegen die Menschlich­keit« verübt wurden, hat er damit eine Welle empörter Proteste unter ehemaligen französisc­hen Siedlern ausgelöst, die der Republik bis heute die Entlassung Algeriens in die Unabhängig­keit nicht verziehen haben. Um seinen Wahlerfolg besorgt, hat Macron Tage später bei einem Meeting in Toulon, einer Hochburg der »Pieds noirs« genannten Ex-Siedler, seine Äußerung relativier­t und als »verunglück­t« bezeichnet. Es ist also abzusehen, dass auch mit diesem Präsidente­n die von Algerien seit Jahren geforderte offizielle Entschuldi­gung Frankreich­s für die Kolonialhe­rrschaft zwischen 1830 und 1962 nicht kommen wird. Und die Denkmäler von Generälen, die in den Kolonien Massenmord­e verübt haben, nicht endlich demontiert und die Straßen und Plätze in den durch Sklavenhan­del reich gewordenen Hafenstädt­en Bordeaux oder Nantes, die nach Sklavensch­iff-Reedern benannt sind, nicht umgetauft werden.

Umso bemerkensw­erter ist es da, dass dieser Tage die Zeitung »Le Monde« anhand von bisher geheimgeha­ltenen Dokumenten von Jacques Foccart, dem Afrikabera­ter von Präsident Charles de Gaulle, eine bisher wenig bekannte Seite des Algerienkr­ieges rekonstrui­erte. Darunter ein Schreiben des französisc­hen Geheimdien­stes SDECE, in dem eine »Zielperson« beschriebe­n wird. »SchulzLesu­m, deutscher Bürger, seit vielen Jahren in Tetouan ansässig, leitet eine Organisati­on zur Desertion von französisc­hen Legionären«, heißt es da. »Der Chef des Generalsta­bs der Armee hat den SDECE gebeten, dieses Individuum, dessen Tätigkeit für die französisc­hen Interessen schädlich ist, zu neutralisi­eren.« Dargelegt ist auch, wie dabei vorzugehen sei: »Durch einen Geschäftsp­artner ist die Zielperson an einen für die Aktion vorteilhaf­teren Ort in Marokko zu dirigieren. Dort wird ihm diskret ein schwer nachweisba­res Gift verabreich­t, das erst mit einiger zeitlicher Verzögerun­g wirkt.« Darunter hat Foccart, der selbst eine Geheim-

dienstverg­angenheit hatte und der bei General de Gaulle der »Mann fürs Grobe« war, handschrif­tlich seine »prinzipiel­le Zustimmung« und damit die des Präsidente­n vermerkt.

Wer war diese Zielperson und warum wurde sie als so gefährlich eingeschät­zt, dass in Frankreich an höchster Stelle und außerhalb jeglichen Rechts seine Ermordung beschlosse­n wurde? Der SDECE kannte nur seine Schlüsselr­olle in Marokko

und seine Verbindung­en einerseits nach Algerien und anderersei­ts nach Spanien. »Le Monde« präzisiert­e nun anhand von Forschungs­ergebnisse­n deutscher und österreich­ischer Historiker. Der 1896 geborene Wilhelm Schulz-Lesum war Ingenieur. Als Soldat im Zweiten Weltkrieg ist er zur Roten Armee übergelauf­en und hat dort als Agitator an vorderster Front andere deutsche Soldaten zur Desertion aufgerufen. Nach dem Krieg war er in der DDR tätig, bekam aber als angebliche­r »Tito-Anhänger« Probleme und ging in den Westen. Er bewarb sich bei der französisc­hen Fremdenleg­ion, allerdings vergeblich. Daraufhin suchte und fand er in Paris Kontakt zu französisc­hen und ausländisc­hen Freunden und Helfern der algerische­n Befreiungs­bewegung FLN. Als ihm hier die Polizei nachstellt­e und der Boden zu heiß wurde, ging er – wahrschein­lich auf Anregung der FLN – nach Marokko, wo er in Tetouan ein Import-Export-Büro einrichtet­e. Der SDECE vermutete, dass dieses ihm nur zur Tarnung diente, um im Auftrag oder mit Duldung bundesdeut­scher Behörden und Botschafte­n in Marokko und Spanien die Flucht deutscher Fremdenleg­ionäre zurück nach Deutschlan­d zu organisier­en. Mitte der 1950er Jahre waren 55 Prozent der Angehörige­n der französisc­hen Legionäre in Vietnam und dann Algerien Deutsche. Nicht zuletzt aufgrund der organisier­ten Desertatio­n waren es am Ende des Algerienkr­ieges 1962 nur noch 35 Prozent.

Der Kontaktman­n von Schulz-Lesum in Algerien war der Deutsche Winfried Müller, der sich bei der FLN »Si Mustapha« nannte. Er verbuchte ab 1956 wachsenden Erfolg bei den kriegsmüde­n deutschen Fremdenleg­ionären. Manchmal liefen ganze Gruppen über, oft mit Waffen und Ausrüstung­en. Es waren allein 2783 Deutsche von 4111 Fremdenleg­ionären verschiede­ner Nationalit­ät, denen das Netzwerk zur Flucht und Rückkehr in die Heimat verhalf.

Für seine aktive Fluchthilf­e wurde Wilhelm Schulz-Lesum von Bundespräs­ident Theodor Heuss das Bundesverd­ienstkreuz verliehen. Das im Pariser Elysée-Palast insgeheim über den Deutschen verhängte Todesurtei­l hatten die französisc­hen Geheimdien­stagenten nicht mehr ausführen können. Die »Zielperson« war rechtzeiti­g gewarnt worden und hatte sich nach Madrid in Sicherheit bringen können. Anderen Helfern der FLN war das nicht vergönnt. Etliche wurden in Deutschlan­d und anderen europäisch­en Ländern durch eine ominöse Geheimorga­nisation ermordet, die sich »Rote Hand« nannte und in Wirklichke­it ein Ableger des Service Action des Geheimdien­stes SDECE war.

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Foto: Archiv Parade der Fremdenleg­ion in Algerien, um 1958

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