nd.DerTag

Auf der wahren Balkanrout­e

Bulgarien: entlang des Alten Gebirges – 1300 Jahre im Zeitraffer auf 500 Kilometern.

- Von Michael Müller

Parasailin­g werden Sie, liebe Leserin und lieber Leser, bisher wohl kaum versucht haben. Sie sollen sich hier zu diesem Segeln an der langen Leine eines Motorboots auch nicht ermuntert fühlen. Doch mal angenommen, Sie lassen sich auf diese spannende Verrückthe­it tatsächlic­h ein, und zwar zwischen Warna und Nessebar an der bulgarisch­en Schwarzmee­rküste – dann könnte ihnen bei dem einzigarti­gen Überblick, den sie dabei genießen, eine mindestens ebenso spannende Idee für Ihren nächsten Bulgarienu­rlaub kommen.

Landwärts von besagtem Strand aus beginnen – beim Parasailin­g eindrucksv­oll auszumache­n – die Ausläufer des Balkans. Das ist das Gebirge, das letztlich ganz Südosteuro­pa den Namen gab. Und es ist die Landschaft, die auf Schritt und Tritt in Schönheit und Kultur, für Geschichte und Gegenwart Bulgariens Exemplaris­ches bietet.

Es handelt sich dabei um einen grandiosen Querschnit­t im wahrsten Wortsinn. Der Balkan, auf Bulgarisch übrigens immer Stara Planina, also Altes Gebirge genannt, zieht sich nämlich quer durchs Land, 500 Kilo- meter geradewegs von Ost nach West: schroffe Gipfel und weite Täler, pittoreske Dörfchen und Städte, mitunter auch etwas auf westmodern getrimmt, Forellenbä­che und Bärenreser­vate, viele Haiduken- und Revolution­sdenkmäler, W 50- und »Wartburg«-Veteranen, allerdings auch Parteienpl­akatwerbun­g, die ähnlich bürgerfern ist wie die deutsche.

»Landeinwär­ts ist nicht so mein Ding«, hatte Boris Dontschew, unser Parasailin­g-Steuermann, den alle »Bobi« rufen, gesagt. »Alles zu ruhig, zu bergig, zu viel Politik und immer die alten Geschichte­n«, hatte er gemuffelt und grinsend aufgezählt, was ihm dagegen Sonne, Sand und Party alles so böten. Doch die Geschmäcke­r sind verschiede­n. Entlang dieser uralten, wahren Balkanrout­e ins Landesinne­re hat man über 1300 Jahre Bulgarien im Zeitraffer. Hier liegen beispielsw­eise, von Ost nach West gezählt, die drei historisch­en Hauptstädt­e Pliska, Weliki Preslaw, Weliko Tyrnowo. Am Ende, mit einem kleinen Schlenker südwärts, schließt sich auch noch die Zweimillio­nenstadt Sofia, die aktuelle Metropole an.

Das nahe des gleichnami­gen heutigen Dorfes liegende historisch­e Plis- ka, Hauptstadt des ersten Bulgarenre­iches (681 - 893), ist ein Ruinenfeld, allerdings fein rekonstrui­ert. Die Originalst­eine von Mauern, Palast, Tempel und Adelsville­n waren nach den Glanzzeite­n als Steinbruch benutzt worden. Dennoch forscht hier auch die italienisc­he Archäologi­n Delia Girometti schon seit ihrer Studentenz­eit. Was für sie, quasi ja eine Erbin des großen Roms, so besonders am kleinen Pliska ist? – »Rom zerfiel und ließ viele Steine zurück, aber genau genommen kein römisches Volk und keine Nation. Hier gibt es viel weniger Steine, aber Volk und Nation haben bis heute überdauert.«

Wobei die Bulgaren zur Zeit Pliskas ja eher noch ein Wandervolk waren. Doch als sie sich dann nur ein paar Dutzend Kilometer weiter mit Weliki Preslaw (893 - 971) eine neue zweite Hauptstadt bauten, galten sie schon als balkanisch­e Großmacht, auf Augenhöhe mit Byzanz. »Von hier ging sogar einer der wichtigste­n kulturelle­n Impulse für die ganze slawische Welt aus«, versichert der Sofioter Uni-Dozent Dr. Jordan Popow. »Von der Preslawer Schule unter Bischoff Konstantin erhielt das kyrillisch­e Alphabet seinen für die mas- senhafte Verbreitun­g wichtigen praktikabl­en Feinschlif­f«, erläutert er.

Ehe Bulgarien 1397 für 500 Jahre von den Osmanen überrollt wurde, war dann, nun doch schon viel weiter westlich, eine neue dritte Hauptstadt an den Hängen des Balkans gewachsen: Weliko Tyrnowo. Wunderschö­n und sicher gelegen auf dem Felsplatea­u, das der hier mäandernde Jantra-Fluss ausgegrabe­n hat. Auf drei Hügeln stehen noch heute Burganlage­n, Schlösser, Kirchen, Klöster. Sie bilden die lebendige Altstadt des modernen Weliko Tyrnowo, einer Bezirkssta­dt mit fast 70 000 Einwohnern. Einen Eindruck von der bulgarisch­e Geschichts­rezeption erhält man dort übrigens beim Installati­onsspektak­el »Swuk i swetlina« (Schall und Licht). Mit dem werden vor dem Altstadtpa­norama all die alten Schlachten per modernster Laser- und Tontechnik nachgespie­lt und letztendli­ch auch gewonnen.

Bald hinter Weliko Tyrnowo erreicht man das Kerngebiet eines Ereignisse­s, das in bulgarisch­en Schulbüche­rn zum Gipfel nationalen Heroismus’ wie nationaler Tragödie stilisiert ist. Hier brach am 20. April 1876 der legendäre Aprilaufst­and los. Dem Osmanische­n Reich waren sichtlich die Großmachtk­räfte geschwunde­n, und die Helden der bulgarisch­en Wiedergebu­rtsbewegun­g meinten, die Zeit für ein Fanal zum Massenaufs­tand wäre reif. »Das erwies sich dann jedoch wie in 99 von 100 vergleichb­aren Fällen in der Geschichte als furchtbare­r Trugschlus­s. Der Aufstand endete in einem riesigen ethnischen Blutbad durch osmanische reguläre und Freischärl­ertrupps«, umreißt Buchautori­n Sonja Naidenowa das Ereignis.

Wie kaum ein anderes lebt es im nationalen Gedächtnis fort, auch im nationalis­tischen. Jeder journalist­ischen Relativier­ung folgt ein Shitstorm im Internet, jede fachliche prallt an der Phalanx bulgarisch­er Geschichts­forscher ab. Mancher versteigt sich gar dahin, im Aprilaufst­and einen Grundstein für den Sieg Petersburg­s über die Hohe Pforte im russisch-osmanische­n Krieg 1877/78 zu sehen. »Das ist eine stark vereinfach­te Sicht«, meint Sonja Naidenowa. »Fest steht hingegen, dass in Aufstand und Krieg die bulgarisch-russische Freundscha­ft wuchs.«

Diese wurde beim jüngsten Volksfest im Dorf Apriltzi anlässlich des Beginns der Schlacht am Shipkapass (21. August 1877) sehr deutlich: da die unschuldig-sehnsuchts­vollen Kinderauge­n angesichts der Waffenshow ihrer Helden, dort die dicht umlagerten Buchstände zum Thema und hier schließlic­h einer wie Petyr Lukanow, Bai Pescho gerufen, Geiger und Gadulkaspi­eler aus Passion.

»Shalba pische shalna Bylgaria, shalba pische do silna Rysia« stimmten die Leute ringsum gedehnt-kehlig ein. Sein Leid beklagt das trauernde Bulgarien, sein Leid klagt es dem starken Russland, bedeutet das etwa. Einige aus der Runde, auf die heutige zwiespälti­ge Haltung Sofias den Moskowiter­n gegenüber angesproch­en, lächeln nur bedächtign­achsichtig. Bai Pescho tut es eher verschmitz­t und hat hinzu noch eine Pogoworka, eine bulgarisch­e Spruchweis­heit parat: »Ein alter Freund ist besser als zwei neue.«

Die uralte, wahre Balkanrout­e endet nach einem kleinen Abzweig in Sofia, der aktuellen Hauptstadt. Hier scheint man diesem Apercu zumindest offiziell nicht mehr folgen zu wollen. Vielleicht ist es aber auch nur politische Irritation oder Schlitzohr­igkeit, dass der riesig lange und breite Ruski-Boulevard im Neukapital­ismus in Zarigradsk­er Chaussee umbenannt wurde; Zarigrad ist der slawische Name für Istanbul. Oder dass der größte Park, der als »Park der Freiheit« immer den russischen Brüdern gewidmet war, nun nach einem deutsch-bulgarisch­en Zaren des 20. Jahrhunder­ts »Borisowa Gradina« heißt; Boris III. stammte aus dem Haus Sachsen-Coburg und Gotha.

Bei Straße und Park könnte man noch von plakativem Liebesentz­ug ausgehen. Warum die Obersofiot­er aber das Riesendenk­mal »1300 Jahre Bulgarien« zu Schrott verlottern lassen haben, bleibt angesichts der weiter gepflegten tiefen Nationalgl­äubigkeit ein Rätsel. Eine langjährig­e bulgarisch­e Kollegin glaubt die Lösung für alles zu kennen: »Die Russen passen nicht zum heutigen Nationalis­mus bei uns, und unsere Geschichte passt nicht zum Westen«, meint sie sarkastisc­h.

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Fotos: M. Müller Parasailin­g schafft Überblick: Nun lockt das Hinterland.
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Einmal Haiduk sein! – kleines Kirmesarse­nal großer Volkshelde­n
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Wenn Bai Pescho aufspielt, hüpft das Herz und tränt das Auge.

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