Auf der wahren Balkanroute
Bulgarien: entlang des Alten Gebirges – 1300 Jahre im Zeitraffer auf 500 Kilometern.
Parasailing werden Sie, liebe Leserin und lieber Leser, bisher wohl kaum versucht haben. Sie sollen sich hier zu diesem Segeln an der langen Leine eines Motorboots auch nicht ermuntert fühlen. Doch mal angenommen, Sie lassen sich auf diese spannende Verrücktheit tatsächlich ein, und zwar zwischen Warna und Nessebar an der bulgarischen Schwarzmeerküste – dann könnte ihnen bei dem einzigartigen Überblick, den sie dabei genießen, eine mindestens ebenso spannende Idee für Ihren nächsten Bulgarienurlaub kommen.
Landwärts von besagtem Strand aus beginnen – beim Parasailing eindrucksvoll auszumachen – die Ausläufer des Balkans. Das ist das Gebirge, das letztlich ganz Südosteuropa den Namen gab. Und es ist die Landschaft, die auf Schritt und Tritt in Schönheit und Kultur, für Geschichte und Gegenwart Bulgariens Exemplarisches bietet.
Es handelt sich dabei um einen grandiosen Querschnitt im wahrsten Wortsinn. Der Balkan, auf Bulgarisch übrigens immer Stara Planina, also Altes Gebirge genannt, zieht sich nämlich quer durchs Land, 500 Kilo- meter geradewegs von Ost nach West: schroffe Gipfel und weite Täler, pittoreske Dörfchen und Städte, mitunter auch etwas auf westmodern getrimmt, Forellenbäche und Bärenreservate, viele Haiduken- und Revolutionsdenkmäler, W 50- und »Wartburg«-Veteranen, allerdings auch Parteienplakatwerbung, die ähnlich bürgerfern ist wie die deutsche.
»Landeinwärts ist nicht so mein Ding«, hatte Boris Dontschew, unser Parasailing-Steuermann, den alle »Bobi« rufen, gesagt. »Alles zu ruhig, zu bergig, zu viel Politik und immer die alten Geschichten«, hatte er gemuffelt und grinsend aufgezählt, was ihm dagegen Sonne, Sand und Party alles so böten. Doch die Geschmäcker sind verschieden. Entlang dieser uralten, wahren Balkanroute ins Landesinnere hat man über 1300 Jahre Bulgarien im Zeitraffer. Hier liegen beispielsweise, von Ost nach West gezählt, die drei historischen Hauptstädte Pliska, Weliki Preslaw, Weliko Tyrnowo. Am Ende, mit einem kleinen Schlenker südwärts, schließt sich auch noch die Zweimillionenstadt Sofia, die aktuelle Metropole an.
Das nahe des gleichnamigen heutigen Dorfes liegende historische Plis- ka, Hauptstadt des ersten Bulgarenreiches (681 - 893), ist ein Ruinenfeld, allerdings fein rekonstruiert. Die Originalsteine von Mauern, Palast, Tempel und Adelsvillen waren nach den Glanzzeiten als Steinbruch benutzt worden. Dennoch forscht hier auch die italienische Archäologin Delia Girometti schon seit ihrer Studentenzeit. Was für sie, quasi ja eine Erbin des großen Roms, so besonders am kleinen Pliska ist? – »Rom zerfiel und ließ viele Steine zurück, aber genau genommen kein römisches Volk und keine Nation. Hier gibt es viel weniger Steine, aber Volk und Nation haben bis heute überdauert.«
Wobei die Bulgaren zur Zeit Pliskas ja eher noch ein Wandervolk waren. Doch als sie sich dann nur ein paar Dutzend Kilometer weiter mit Weliki Preslaw (893 - 971) eine neue zweite Hauptstadt bauten, galten sie schon als balkanische Großmacht, auf Augenhöhe mit Byzanz. »Von hier ging sogar einer der wichtigsten kulturellen Impulse für die ganze slawische Welt aus«, versichert der Sofioter Uni-Dozent Dr. Jordan Popow. »Von der Preslawer Schule unter Bischoff Konstantin erhielt das kyrillische Alphabet seinen für die mas- senhafte Verbreitung wichtigen praktikablen Feinschliff«, erläutert er.
Ehe Bulgarien 1397 für 500 Jahre von den Osmanen überrollt wurde, war dann, nun doch schon viel weiter westlich, eine neue dritte Hauptstadt an den Hängen des Balkans gewachsen: Weliko Tyrnowo. Wunderschön und sicher gelegen auf dem Felsplateau, das der hier mäandernde Jantra-Fluss ausgegraben hat. Auf drei Hügeln stehen noch heute Burganlagen, Schlösser, Kirchen, Klöster. Sie bilden die lebendige Altstadt des modernen Weliko Tyrnowo, einer Bezirksstadt mit fast 70 000 Einwohnern. Einen Eindruck von der bulgarische Geschichtsrezeption erhält man dort übrigens beim Installationsspektakel »Swuk i swetlina« (Schall und Licht). Mit dem werden vor dem Altstadtpanorama all die alten Schlachten per modernster Laser- und Tontechnik nachgespielt und letztendlich auch gewonnen.
Bald hinter Weliko Tyrnowo erreicht man das Kerngebiet eines Ereignisses, das in bulgarischen Schulbüchern zum Gipfel nationalen Heroismus’ wie nationaler Tragödie stilisiert ist. Hier brach am 20. April 1876 der legendäre Aprilaufstand los. Dem Osmanischen Reich waren sichtlich die Großmachtkräfte geschwunden, und die Helden der bulgarischen Wiedergeburtsbewegung meinten, die Zeit für ein Fanal zum Massenaufstand wäre reif. »Das erwies sich dann jedoch wie in 99 von 100 vergleichbaren Fällen in der Geschichte als furchtbarer Trugschluss. Der Aufstand endete in einem riesigen ethnischen Blutbad durch osmanische reguläre und Freischärlertrupps«, umreißt Buchautorin Sonja Naidenowa das Ereignis.
Wie kaum ein anderes lebt es im nationalen Gedächtnis fort, auch im nationalistischen. Jeder journalistischen Relativierung folgt ein Shitstorm im Internet, jede fachliche prallt an der Phalanx bulgarischer Geschichtsforscher ab. Mancher versteigt sich gar dahin, im Aprilaufstand einen Grundstein für den Sieg Petersburgs über die Hohe Pforte im russisch-osmanischen Krieg 1877/78 zu sehen. »Das ist eine stark vereinfachte Sicht«, meint Sonja Naidenowa. »Fest steht hingegen, dass in Aufstand und Krieg die bulgarisch-russische Freundschaft wuchs.«
Diese wurde beim jüngsten Volksfest im Dorf Apriltzi anlässlich des Beginns der Schlacht am Shipkapass (21. August 1877) sehr deutlich: da die unschuldig-sehnsuchtsvollen Kinderaugen angesichts der Waffenshow ihrer Helden, dort die dicht umlagerten Buchstände zum Thema und hier schließlich einer wie Petyr Lukanow, Bai Pescho gerufen, Geiger und Gadulkaspieler aus Passion.
»Shalba pische shalna Bylgaria, shalba pische do silna Rysia« stimmten die Leute ringsum gedehnt-kehlig ein. Sein Leid beklagt das trauernde Bulgarien, sein Leid klagt es dem starken Russland, bedeutet das etwa. Einige aus der Runde, auf die heutige zwiespältige Haltung Sofias den Moskowitern gegenüber angesprochen, lächeln nur bedächtignachsichtig. Bai Pescho tut es eher verschmitzt und hat hinzu noch eine Pogoworka, eine bulgarische Spruchweisheit parat: »Ein alter Freund ist besser als zwei neue.«
Die uralte, wahre Balkanroute endet nach einem kleinen Abzweig in Sofia, der aktuellen Hauptstadt. Hier scheint man diesem Apercu zumindest offiziell nicht mehr folgen zu wollen. Vielleicht ist es aber auch nur politische Irritation oder Schlitzohrigkeit, dass der riesig lange und breite Ruski-Boulevard im Neukapitalismus in Zarigradsker Chaussee umbenannt wurde; Zarigrad ist der slawische Name für Istanbul. Oder dass der größte Park, der als »Park der Freiheit« immer den russischen Brüdern gewidmet war, nun nach einem deutsch-bulgarischen Zaren des 20. Jahrhunderts »Borisowa Gradina« heißt; Boris III. stammte aus dem Haus Sachsen-Coburg und Gotha.
Bei Straße und Park könnte man noch von plakativem Liebesentzug ausgehen. Warum die Obersofioter aber das Riesendenkmal »1300 Jahre Bulgarien« zu Schrott verlottern lassen haben, bleibt angesichts der weiter gepflegten tiefen Nationalgläubigkeit ein Rätsel. Eine langjährige bulgarische Kollegin glaubt die Lösung für alles zu kennen: »Die Russen passen nicht zum heutigen Nationalismus bei uns, und unsere Geschichte passt nicht zum Westen«, meint sie sarkastisch.