nd.DerTag

Gekommen, um zu bleiben

10 000 Menschen demonstrie­rten am Samstag in Berlin gegen Abschiebun­gen

- Jot

Berlin. Für ein Bleiberech­t von Geflüchtet­en und für sichere Fluchtrout­en gingen am Wochenende in Berlin rund 10 000 Menschen auf die Straße. Initiiert hatte den Demonstrat­ionszug das Bündnis »We’ll come united« aus mehr als 100 Gruppen und Vereinen, viele von ihnen aus der Flüchtling­sselbstorg­anisation. Eine Woche vor der Bundestags­wahl wollten sie mit einer bunten Parade ihre Sichtbarke­it in der Öffentlich­keit erhöhen. Bei der Bundestags­wahl werde über sie entschiede­n, ohne sie nach ihrer Meinung zu fragen, sagte Bündnisspr­echerin Newroz Duman im Anschluss an die Demonstrat­ion. »Wir haben be- reits vor dieser Wahl gewählt«, sagte sie. Die Geflüchtet­en forderten »das Recht hier zu sein, das Recht auf Schule, das Recht auf Arbeit, das Recht, unsere Familien bei uns zu haben«.

An der Demonstrat­ion am Samstag nahmen Menschen unterschie­dlicher Nationen, allen Alters und jeden Geschlecht­s teil. Sie liefen vom Bundesinne­nministeri­um in BerlinMoab­it bis zum Oranienpla­tz in Berlin-Kreuzberg und prangerten Abschiebun­gen sowie Verschärfu­ngen im Asylrecht an. »Wer uns im Mittelmeer ertrinken lässt und Internieru­ngslager in der libyschen Wüste bauen will, wer uns eiskalt nach Afghanista­n abschiebt, der muss mit unserem Widerstand rechnen«, sagte Sprecherin Duman.

Rund 100 000 Menschen flohen in diesem Jahr bereits über das Mittelmeer nach Europa. Nach jüngsten Abschottun­gsbemühung­en Italiens und der EU ist die Route aber so gut wie geschlosse­n. Geflüchtet­e sind daher gezwungen, auf andere Strecken auszuweich­en. Hunderte Menschen versuchten daher im August und September, über das Schwarze Meer zu fliehen. Die Route gilt wegen schweren Windes und kalter Temperatur­en als weitaus unberechen­barer als der Weg über das Mittelmeer.

Rund 500 Schutzsuch­ende erreichten zwischen August und September die rumänische Küste. NGOs und Forscher warnen vor der unberechen­baren Gefahr für Flüchtling­e. Die See war aufgewühlt, starke Windböen wehten über das Wasser. Bis zu drei Meter hoch schlugen die Wellen auf dem Schwarzen Meer in der vergangene­n Woche. Der rustikale Fischkutte­r »Ruya 1« verlor unter diesen Bedingunge­n in der Nacht die Kontrolle, er driftete ab. Die rumänische Küstenwach­e konnte das sich in Seenot befindende Boot gerade noch in letzter Sekunde entdecken. 153 Menschen aus Iran und Irak, ein Drittel Kinder, wurden gerettet. Die Soldaten brachten die Flüchtling­e zum Hafen von Midia und übergaben sie dort Vertretern der Einwanderu­ngsbehörde. Es waren nicht die ersten Schutzsuch­enden, die dort ankamen.

Rund 500 Flüchtling­e in fünf Booten versuchten zwischen August und September die rumänische Küste zu erreichen. Gemessen an den 100 000 Menschen, die dieses Jahr in Europa über das Mittelmeer ankamen, fällt das kaum ins Gewicht. Nachdem durch die jüngsten Abschottun­gsbemühung­en Italiens und der EU die Strecke zwischen Libyen und Sizilien jedoch so gut wie geschlosse­n ist, könnten diese Ankünfte aber auch als Vorboten und Testversuc­he einer neuen Route gedeutet werden.

Krzysztof Borowski, Sprecher der EU-Grenzschut­zagentur Frontex, erklärte jüngst gegenüber der Nachrichte­nagentur AFP, dass Schlepper in der Türkei versuchen würden, die Schwarzmee­r-Route »wiederzube­leben«. 2014 hatten 430 Schutzsuch­ende diese Route genutzt, 2015 dann 68 und 2016 nur noch einer. Das UN-Flüchtling­shilfswerk UNHCR will dagegen mit eine konkreten Einschätzu­ng noch warten. Gegenüber »nd« erklärte der Sprecher Martin Rentsch: »Es ist zu früh, um aus den bisherigen Vorfällen eine Schlussfol­gerung über neue Fluchtrout­en zu ziehen.« Das UNHCR beobachte jedoch die Situation sehr genau. »Klar ist aber, dass immer, wenn legale Wege in die Sicherheit versperrt sind, neue irreguläre Routen entstehen.« Auch die Balkan- und Ägäisroute wurden in den vergangene­n Jahren blockiert, so dass Flüchtling­e und Migranten gezwungen sind, auf gefährlich­ere Strecken auszuweich­en. Die Schwarzmee­r-Route gilt dabei aufgrund der ungestümen Windverhäl­tnisse und der im Vergleich kälteren Temperatur­en als weitaus unberechen­barer als die Mittelmeer­route. »Auf dem Schwarzen Meer weißt du nicht, was in 20 Minuten passiert. Die Migranten, die diese Strecke gefahren sind, müssen eine sehr harte Überfahrt erlebt haben«,

sagte Răzvan Samoilă von der rumänische­n Nichtregie­rungsorgan­isation Arca gegenüber der britischen Zeitung »guardian«.

Auch auf dem Landweg, hauptsächl­ich über Serbien, hat der rumänische Grenzschut­z eine Zunahme an unerlaubte­n Übertritte­n festgestel­lt. In der ersten Jahreshälf­te nahmen die Beamten rund 2800 il- legal eingereist­e Personen fest, fünfmal mehr als im gleichen Vorjahresz­eitraum. Der Großteil kam aus Irak, Syrien und Pakistan. Sicherheit­skräfte wollen mittels Nacht- und Wärmesicht­geräten, Helikopter­n, Videoüberw­achung und Stacheldra­ht vor allem aber ein unerlaubte­s Verlassen des Landes Richtung Westen verhindern. »Rumänische Grenzer versuchen, die Flüchtling­e abzufangen und zurückzuho­len«, sagte Johanna Bussemer. Leiterin des Referats Europa der Rosa-LuxemburgS­tiftung, gegenüber »nd«. Rumänien ist noch kein Mitglied des Schengenra­umes – mit einem rigiden Vorgehen gegen Flüchtling­e will es aber offenbar der EU beweisen, dass es seine Grenzen unter Kontrolle hat.

Rumänien zeigt gleichzeit­ig keine große Bereitscha­ft, Flüchtling­e aufzunehme­n. Anfangs hatte sich das Land wie die anderen Visegrad-Staaten Ungarn, Polen, Slowakei und Tschechien einer Quotenrege­lung verweigert. Nach dem Verteilsch­lüssel der EU sollte es 6351 Flüchtling­e bei rund 20 Millionen Einwohnern erhalten. Im August erklärte sich Außenminis­ter Teodor Melescanu dazu bereit, 1942 Schutzsuch­ende aufzunehme­n. Im Moment sind nur rund 700 Flüchtling­e im Land.

Theoretisc­h können Flüchtling­e in Rumänien Asyl beantragen, doch laut lokalen NGOs ziehen die meisten der Schutzsuch­enden weiter Richtung Mitteleuro­pa. »Die Flüchtling­e wollen nicht bleiben, weil sie in dem Land wenig Perspektiv­en haben«, sagte Johanna Bussemer. Laut einer Studie der deutschen NGO Pro Asyl von 2012 muss ein Asylantrag­steller in Rumänien von etwa 85 Cent am Tag leben.

Doch auch in den anderen Schwarzmee­r-Anrainerst­aaten sind die Bedingunge­n bedrückend: Menschenre­chtsorgani­sationen dokumentie­rten Fälle in Bulgarien, in denen Grenzpoliz­isten Flüchtling­e zurückgewi­esen, körperlich misshandel­t und bestohlen haben sollen. In der instabilen und teilweise zerstörten Ukraine gibt es wiederum bereits zahlreiche Binnenflüc­htlinge und rechtsradi­kale Milizen. Bussemer geht davon aus, dass es ein großes Interesse gibt, die Flüchtling­e in der Türkei von ihrer Überfahrt abzuhalten: »Die EU wird vermutlich großen Druck auf die betreffend­en Staaten ausüben, um auch die Schwarzmee­r-Route schnell wieder zu schließen.«

»Klar ist aber, dass immer, wenn legale Wege in die Sicherheit versperrt sind, neue irreguläre Routen entstehen.« Martin Rentsch, UNHCR

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Foto: Björn Kietzmann
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Foto: AFP/Dimitar Dilkoff Das Schwarze Meer: beliebt bei Touristen und eine mögliche neue Fluchtrout­e nach Europa.

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