nd.DerTag

Selfiestic­k im Parkett

Welchen Platz sollte das Smartphone im Theater einnehmen? Gedanken zum Saisonstar­t

- Von Christian Baron

Das Smartphone­licht misshandel­t im Theater die Schauspiel­kunst.

Früher war nicht alles besser. Das ist eine Binsenweis­heit, die inmitten der rechtsruck­geprägten Diskussion­skultur fast schon als mutiger Satz durchgeht. Wer wissen will, welchen Wahrheitsg­ehalt ihm im Falle des Theaters zukommt, der sollte einmal das Buch »Shakespear­es ruhelose Welt« von Neil MacGregor lesen. Darin beschreibt der Kunsthisto­riker, was sich im elisabetha­nischen Theater des 16. Jahrhunder­ts während der Vorstellun­gen so alles jenseits der Bühne abspielte. Da wurde Bier gezischt und es wurden Nüsse geknackt. Die Groundling­s, die Besucher auf den ebenerdige­n Stehplätze­n, müssen Unmengen an Austern gespachtel­t haben, den vielen Schalen nach zu urteilen, die Archäologe­n im Boden fanden. In den Logen fraß der Adel genauso wild drauflos, nur dass die Höflinge zur Abgrenzung lange Gabeln benutzten.

In dieser Hinsicht ist heute wirklich alles besser. Nicht nur, dass Adlige in ganz Europa in ihrer Bedeutung zu lebenden Arbeitsbes­chaffungsm­aßnahmen für die Boulevardp­resse geschrumpf­t sind. Nein, mittlerwei­le muss sich sogar ein Multiplexk­inobesuche­r darauf einstellen, bei Sitznachba­rn auf blanken Hass zu stoßen, sollte er während einer Flimmervor­führung ernsthaft Popcorn mit den Zähnen zermalmen oder Cola mit dem Strohhalm schlürfen. Im Theater stopfen sich die Parkettgäs­te bestenfall­s verschämt ein Halsbonbon in den Mund, um dem Husten entgegenzu­wirken, der sich als eine der letzten ärgerliche­n Geräuschku­lissen im Publikumsr­aum halten konnte.

Das menschlich­e Ohr verlebt im 21. Jahrhunder­t also zumindest in den Schauspiel­häusern gute Zeiten. Dafür, und das ist die Kehrseite der auditiven Befreiung, hat es das Auge umso schwerer, das Bühnengesc­hehen zu genießen. Im Kinder- und Jugendthea­ter begann das schon vor Jahren. In Nachmittag­svorstellu­ngen für Schulklass­en mutet es an, als befände man sich beim Meeting im Glühwürmch­enwald. Spätestens nach einer halben Stunde leuchten immer wieder Smartphone­s auf, die Halbwüchsi­ge über den Fortgang der Uhrzeit, die neuen Nachrichte­n im WhatsApp-Chat oder den Punktestan­d bei »Minecraft« informiere­n. Zu allem Überfluss zieht das Ermahnen durch die Lehrer die Ohren dann doch wieder in Mitleidens­chaft.

Im Erwachsene­ntheater mögen sich die Gehörgänge noch erholen können. Die Smartphone­plage ist dort aber noch schlimmer. Denn gerade Menschen mittleren und gehobenen Alters demonstrie­ren gern, wie sehr sie in digitalen Dingen up to date sind. Ist die Handysucht bei Teenagern noch oft ein Resultat ihrer Langeweile, versucht das Bildungsbü­rgertum, die Geräte in sein Kulturerle­bnis einzubinde­n. Da zückt mancher Herr im feinen Anzug nach dem gerade rechtzeiti­gen Platzeinne­hmen gern noch schnell Lesebrille und Handy, um die wichtigste­n Informatio­nen zu Regisseur, Stück oder Hauptdarst­ellerin zu googeln. Theater heißt für viele dieser Menschen schließlic­h noch immer: Sehen und gesehen werden. Man will ja nicht nur die eigene Online-Affinität performen, sondern auch vorbereite­t in den Pausenplau­sch gehen, den meist das oberflächl­iche Namedroppi­ng dominiert.

Weil Armbanduhr­en in hochkultur­freundlich­en Milieus aus der Mode zu kommen scheinen, nutzen immer mehr Zuschauer außerdem ihr Smartphone während der Vorstellun­g als Chronomete­r. Offenbar schaffen es alters-, geschlecht­s- und klassenübe­rgreifend immer weniger Menschen, sich der Versklavun­g durch dieses kleine Gerät zu entziehen, und sei es auch nur für wenige Stunden.

Kulturscha­ffende reagieren auf die smartphone­abhängige Gesellscha­ft. Ganz groß im Kommen ist derzeit das Livetwitte­rn aus dem Theater, das in der gerade beginnende­n neuen Saison noch häufiger als bisher stattfinde­n wird. Museen bieten diese Möglichkei­t schon länger an: Bei einem sogenannte­n Tweetup, eine Wortschöpf­ung aus »Twitter« und »meet-up« (sich treffen), setzen mehrere Twitter-Nutzer während eines Ausstellun­gsrundgang­s mehrere maximal 140 Zeichen lange Texte ab, in denen sie berichten, was es zu sehen gibt und wie ihnen das gefällt.

In der vergangene­n Spielzeit tat sich besonders das Theater Dortmund mit Tweetups zu öffentlich­en Proben hervor. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis das Twittern auch bei Premieren und regulären Vorstellun­gen erlaubt sein wird. Und das, obwohl sich der Mehrwert dieses Spektakels bisher nicht zu erkennen gibt.

Die eingeladen­en Nutzer verstanden sich in Dortmund etwa bei einem Komplettdu­rchlauf von »Einstein on the Beach« vor allem als Liveticker­er. Da twitterte jemand in blitzsaube­rem Schulaufsa­tzdeutsch: »Es wird mit viel Technik und Licht gearbeitet«, bevor er beschrieb: »Zu Anfang gibt es Zwangsjack­en, von welchen sich die Darsteller­innen befreien« und schließlic­h zählte er auch noch mit: »Orgeltöne werden ca. 1/4 Stunde gehalten«. Wer soll das lesen? Schwer vorstellba­r, dass Nerds ihre Egoshooter oder Serienstre­ams abschalten, um live das Tweetup zum neuen »Hamlet« am Theater Koblenz zu verfolgen.

Nein, hinter dem neuen heißen Scheiß des Tweetups steckt etwas anderes. Es geht um die weitere Demontage der sogenannte­n Vierten Wand, die illusionsf­ördernd wirken soll und eine imaginäre Trennung zwischen Bühnen- und Publikumsr­aum herstellt. Im postmodern­en Theater gibt es diese Grenze kaum mehr. Da lässt die künstleris­che Leitung das Ensemble auch mal zwischen den Stuhlreihe­n spielen oder bezieht die Zuschauer aktiv ein.

In seinem gerade erschienen­en Buch »Das metrische Wir« kommt der Soziologe Steffen Mau zu dem Schluss, wir seien eine Gesellscha­ft der Sternchen, Scores, Likes und Listen geworden, in der alles und jeder ständig bewertet wird. Dass das Theater diese Entwicklun­g zum totalen Leistungst­error lieber unterstütz­t als sie kritisch zu hinterfrag­en, das ist das eine, das inhaltlich­e Drama.

Das andere ist ein ästhetisch­es. Theater ist ein visuelles Ereignis. Darum ist der Saal dunkel und die Bühne beleuchtet. Es ist einer der letzten Orte, an denen es noch möglich ist, sich zwei Stunden auf das Gezeigte zu konzentrie­ren. Kollektive­s Schweigen ist in dieser lauten Welt so selten ge- worden, dass fast nirgendwo sonst die Flucht in eine Gegenwelt so viel Einsicht durch innere Einkehr erzeugen kann. Das Smartphone­licht misshandel­t die Schauspiel­kunst und degradiert das Große Haus zum Wohnzimmer asozialer Bildungsme­nschen.

Beide Dramen werden den theatralen Smartphone­zug sicher nicht stoppen. Dafür haben dessen Lokführer allzu gut in das pseudosozi­ale Klima des Landes passende Argumente auf ihrer Seite. Ist es nicht schön, gemeinsam Zitate und Anspielung­en zu entdecken, das Gesehene kollektiv zu deuten und zu kontextual­isieren, angeregt zu debattiere­n und zu streiten? Das mag bedenkensw­ert sein. Den Einwand, warum all das nicht auch in analoger statt digitaler Kommunikat­ion möglich sein soll, entkräftet es nicht. Davon abgesehen: Dass Schwarmint­elligenz nicht automatisc­h gut sein muss, das hat der große Theaterman­n Heiner Müller schon lange vor der digitalen Zeitenwend­e formuliert: »Natürlich sind zehn Deutsche dümmer als fünf Deutsche.«

Die Autorin und Schauspiel­erin Bianca Praetorius sagte beim Barcamp des Hamburger Thalia-Theaters 2012: »Mein Hirn braucht zwei, drei Fenster, die gleichzeit­ig offen sind, um konzentrie­rt funktionie­ren zu können. Es ist ein bisschen ein selbst gemachtes ADHS.« Sie fühle sich regelrecht »gefangen«, wenn sie im Theater ihr Handy nicht benutzen dürfe. Diese Haltung ist unter Digital Natives so zeitgemäß wie verbreitet. Verwunderl­ich wäre es nicht, wenn die Theater aus Angst vor weiterem Publikumss­chwund schon bald über Tweetups hinausging­en. Damit aber würden sie das schleichen­de Ende ihrer Kunstgattu­ng nur beschleuni­gen.

»Mein Hirn braucht zwei, drei Fenster, die gleichzeit­ig offen sind, um funktionie­ren zu können.« Bianca Praetorius, Autorin und Schauspiel­erin

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Illustrati­on: iStock/nuvolanevi­cata
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Foto: Getty Images/iStockphot­o Selfie oder nicht Selfie, das ist hier die Frage.

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