Selfiestick im Parkett
Welchen Platz sollte das Smartphone im Theater einnehmen? Gedanken zum Saisonstart
Das Smartphonelicht misshandelt im Theater die Schauspielkunst.
Früher war nicht alles besser. Das ist eine Binsenweisheit, die inmitten der rechtsruckgeprägten Diskussionskultur fast schon als mutiger Satz durchgeht. Wer wissen will, welchen Wahrheitsgehalt ihm im Falle des Theaters zukommt, der sollte einmal das Buch »Shakespeares ruhelose Welt« von Neil MacGregor lesen. Darin beschreibt der Kunsthistoriker, was sich im elisabethanischen Theater des 16. Jahrhunderts während der Vorstellungen so alles jenseits der Bühne abspielte. Da wurde Bier gezischt und es wurden Nüsse geknackt. Die Groundlings, die Besucher auf den ebenerdigen Stehplätzen, müssen Unmengen an Austern gespachtelt haben, den vielen Schalen nach zu urteilen, die Archäologen im Boden fanden. In den Logen fraß der Adel genauso wild drauflos, nur dass die Höflinge zur Abgrenzung lange Gabeln benutzten.
In dieser Hinsicht ist heute wirklich alles besser. Nicht nur, dass Adlige in ganz Europa in ihrer Bedeutung zu lebenden Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für die Boulevardpresse geschrumpft sind. Nein, mittlerweile muss sich sogar ein Multiplexkinobesucher darauf einstellen, bei Sitznachbarn auf blanken Hass zu stoßen, sollte er während einer Flimmervorführung ernsthaft Popcorn mit den Zähnen zermalmen oder Cola mit dem Strohhalm schlürfen. Im Theater stopfen sich die Parkettgäste bestenfalls verschämt ein Halsbonbon in den Mund, um dem Husten entgegenzuwirken, der sich als eine der letzten ärgerlichen Geräuschkulissen im Publikumsraum halten konnte.
Das menschliche Ohr verlebt im 21. Jahrhundert also zumindest in den Schauspielhäusern gute Zeiten. Dafür, und das ist die Kehrseite der auditiven Befreiung, hat es das Auge umso schwerer, das Bühnengeschehen zu genießen. Im Kinder- und Jugendtheater begann das schon vor Jahren. In Nachmittagsvorstellungen für Schulklassen mutet es an, als befände man sich beim Meeting im Glühwürmchenwald. Spätestens nach einer halben Stunde leuchten immer wieder Smartphones auf, die Halbwüchsige über den Fortgang der Uhrzeit, die neuen Nachrichten im WhatsApp-Chat oder den Punktestand bei »Minecraft« informieren. Zu allem Überfluss zieht das Ermahnen durch die Lehrer die Ohren dann doch wieder in Mitleidenschaft.
Im Erwachsenentheater mögen sich die Gehörgänge noch erholen können. Die Smartphoneplage ist dort aber noch schlimmer. Denn gerade Menschen mittleren und gehobenen Alters demonstrieren gern, wie sehr sie in digitalen Dingen up to date sind. Ist die Handysucht bei Teenagern noch oft ein Resultat ihrer Langeweile, versucht das Bildungsbürgertum, die Geräte in sein Kulturerlebnis einzubinden. Da zückt mancher Herr im feinen Anzug nach dem gerade rechtzeitigen Platzeinnehmen gern noch schnell Lesebrille und Handy, um die wichtigsten Informationen zu Regisseur, Stück oder Hauptdarstellerin zu googeln. Theater heißt für viele dieser Menschen schließlich noch immer: Sehen und gesehen werden. Man will ja nicht nur die eigene Online-Affinität performen, sondern auch vorbereitet in den Pausenplausch gehen, den meist das oberflächliche Namedropping dominiert.
Weil Armbanduhren in hochkulturfreundlichen Milieus aus der Mode zu kommen scheinen, nutzen immer mehr Zuschauer außerdem ihr Smartphone während der Vorstellung als Chronometer. Offenbar schaffen es alters-, geschlechts- und klassenübergreifend immer weniger Menschen, sich der Versklavung durch dieses kleine Gerät zu entziehen, und sei es auch nur für wenige Stunden.
Kulturschaffende reagieren auf die smartphoneabhängige Gesellschaft. Ganz groß im Kommen ist derzeit das Livetwittern aus dem Theater, das in der gerade beginnenden neuen Saison noch häufiger als bisher stattfinden wird. Museen bieten diese Möglichkeit schon länger an: Bei einem sogenannten Tweetup, eine Wortschöpfung aus »Twitter« und »meet-up« (sich treffen), setzen mehrere Twitter-Nutzer während eines Ausstellungsrundgangs mehrere maximal 140 Zeichen lange Texte ab, in denen sie berichten, was es zu sehen gibt und wie ihnen das gefällt.
In der vergangenen Spielzeit tat sich besonders das Theater Dortmund mit Tweetups zu öffentlichen Proben hervor. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis das Twittern auch bei Premieren und regulären Vorstellungen erlaubt sein wird. Und das, obwohl sich der Mehrwert dieses Spektakels bisher nicht zu erkennen gibt.
Die eingeladenen Nutzer verstanden sich in Dortmund etwa bei einem Komplettdurchlauf von »Einstein on the Beach« vor allem als Livetickerer. Da twitterte jemand in blitzsauberem Schulaufsatzdeutsch: »Es wird mit viel Technik und Licht gearbeitet«, bevor er beschrieb: »Zu Anfang gibt es Zwangsjacken, von welchen sich die Darstellerinnen befreien« und schließlich zählte er auch noch mit: »Orgeltöne werden ca. 1/4 Stunde gehalten«. Wer soll das lesen? Schwer vorstellbar, dass Nerds ihre Egoshooter oder Serienstreams abschalten, um live das Tweetup zum neuen »Hamlet« am Theater Koblenz zu verfolgen.
Nein, hinter dem neuen heißen Scheiß des Tweetups steckt etwas anderes. Es geht um die weitere Demontage der sogenannten Vierten Wand, die illusionsfördernd wirken soll und eine imaginäre Trennung zwischen Bühnen- und Publikumsraum herstellt. Im postmodernen Theater gibt es diese Grenze kaum mehr. Da lässt die künstlerische Leitung das Ensemble auch mal zwischen den Stuhlreihen spielen oder bezieht die Zuschauer aktiv ein.
In seinem gerade erschienenen Buch »Das metrische Wir« kommt der Soziologe Steffen Mau zu dem Schluss, wir seien eine Gesellschaft der Sternchen, Scores, Likes und Listen geworden, in der alles und jeder ständig bewertet wird. Dass das Theater diese Entwicklung zum totalen Leistungsterror lieber unterstützt als sie kritisch zu hinterfragen, das ist das eine, das inhaltliche Drama.
Das andere ist ein ästhetisches. Theater ist ein visuelles Ereignis. Darum ist der Saal dunkel und die Bühne beleuchtet. Es ist einer der letzten Orte, an denen es noch möglich ist, sich zwei Stunden auf das Gezeigte zu konzentrieren. Kollektives Schweigen ist in dieser lauten Welt so selten ge- worden, dass fast nirgendwo sonst die Flucht in eine Gegenwelt so viel Einsicht durch innere Einkehr erzeugen kann. Das Smartphonelicht misshandelt die Schauspielkunst und degradiert das Große Haus zum Wohnzimmer asozialer Bildungsmenschen.
Beide Dramen werden den theatralen Smartphonezug sicher nicht stoppen. Dafür haben dessen Lokführer allzu gut in das pseudosoziale Klima des Landes passende Argumente auf ihrer Seite. Ist es nicht schön, gemeinsam Zitate und Anspielungen zu entdecken, das Gesehene kollektiv zu deuten und zu kontextualisieren, angeregt zu debattieren und zu streiten? Das mag bedenkenswert sein. Den Einwand, warum all das nicht auch in analoger statt digitaler Kommunikation möglich sein soll, entkräftet es nicht. Davon abgesehen: Dass Schwarmintelligenz nicht automatisch gut sein muss, das hat der große Theatermann Heiner Müller schon lange vor der digitalen Zeitenwende formuliert: »Natürlich sind zehn Deutsche dümmer als fünf Deutsche.«
Die Autorin und Schauspielerin Bianca Praetorius sagte beim Barcamp des Hamburger Thalia-Theaters 2012: »Mein Hirn braucht zwei, drei Fenster, die gleichzeitig offen sind, um konzentriert funktionieren zu können. Es ist ein bisschen ein selbst gemachtes ADHS.« Sie fühle sich regelrecht »gefangen«, wenn sie im Theater ihr Handy nicht benutzen dürfe. Diese Haltung ist unter Digital Natives so zeitgemäß wie verbreitet. Verwunderlich wäre es nicht, wenn die Theater aus Angst vor weiterem Publikumsschwund schon bald über Tweetups hinausgingen. Damit aber würden sie das schleichende Ende ihrer Kunstgattung nur beschleunigen.
»Mein Hirn braucht zwei, drei Fenster, die gleichzeitig offen sind, um funktionieren zu können.« Bianca Praetorius, Autorin und Schauspielerin