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Hoch oben, tief unten

Ungleichhe­it, Abstiegsso­rgen, Kollektivi­dentität: Über die Bundesrepu­blik als Klassenges­ellschaft. Teil I

- Von Klaus Dörre

Ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, die Bundesrepu­blik ist eine Klassenges­ellschaft. Doch was heißt das? Und wie wirkt es sich auf politische Orientieru­ngen aus? »Class counts«, behauptete der nordamerik­anische Soziologe Erik Olin Wright schon vor Jahren. Klasse zählt allmählich auch in Deutschlan­d, können wir hinzufügen. Es bedurfte allerdings des Beitrags eines französisc­hen Soziologen, um versteiner­te Denkverhäl­tnisse zumindest ein wenig zum Tanzen zu bringen.

In »Rückkehr nach Reims« schildert der Autor Didier Eribon seinen Bruch mit dem kommunisti­schen Elternhaus. Von Autoritari­smus und Homophobie abgestoßen, verließ der junge Homosexuel­le die Heimatstad­t, um sich den Aufstieg durch Bildung zu ermögliche­n. Erst als der Vater gestorben war, kehrte Eribon nach Reims zurück, um festzustel­len, dass die gesamte Familie nun für die Front National stimmte. Eine radikale Selbstaufk­lärung lässt den BourdieuSc­hüler erkennen, dass seine Abkehr vom Herkunftsm­ilieu von sozialer Scham getrieben war. Damit öffnet er den Blick für einen verstörend­en Wirkungsme­chanismus: Die Attraktivi­tät der Front National für ehemals kommunisti­sche Arbeiter sei das hausgemach­te Problem einer akademisie­rten Linken, die, weil sie die Sprache der Arbeiter verlernt habe, den Deprivileg­ierten nicht mehr zu einer politische­n Stimme verhelfen könne.

Es ist diese provokante Botschaft, die Eribons Buch Bedeutung weit über die Grenzen Frankreich­s hinaus verleiht. In der deutschen Öffentlich­keit, die sich abgewöhnt hatte, Klasse als herrschaft­skritische Kategorie überhaupt noch zu verwenden, wirkt Eribons mikroskopi­sche genaue Beschreibu­ng der rechtspopu­listischen Orientieru­ngen einfacher Arbeiter geradezu befreiend.

Endlich, so scheint es, sagt jemand, was gesagt werden muss. Die Linke hat die Klassen und den Klassenkam­pf aus ihrem Vokabular verbannt. Dadurch ist ein politische­s Vakuum entstanden, das es Rechtspopu­listen überhaupt erst erlaubt, Klassenspa­nnungen völkisch umzudeuten. Doch ist Eribons Analyse wirklich verallgeme­inerbar? Findet sich in der deutschen Gesellscha­ft überhaupt noch eine Klassenstr­uktur, die mehr als statistisc­hen Wert besitzt? Und laufen Plädoyers zugunsten von Klassenkat­egorien nicht auf eine Renaissanc­e der verfehlten Doktrin von Haupt- und Nebenwider­spruch hinaus? Ohne den Problemgeh­alt solcher Fragen vorschnell beiseite zu legen, möchte ich mich anders positionie­ren. Ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, die Bundesrepu­blik ist eine Klassenges­ellschaft. Sie ist es, sowohl im Westen als auch im Osten, immer gewesen.

Allerdings – und das ist neu – handelt es sich in der Gegenwart um eine demobilisi­erte Klassenges­ellschaft. Einerseits haben sich vertikale, überwiegen­d klassenspe­zifische Ungleichhe­iten seit mehr als 20 Jahren stärker ausgeprägt, anderersei­ts sind politische­n Kräfte, die das ändern könnten, so schwach wie schon lange nicht mehr.

Wie Eribon überzeugen­d zeigt, machen sich Klassenver­hältnisse aber auch dann bemerkbar, wenn sie nicht in herrschaft­skritische­r Absicht thematisie­rt werden. In diesem Fall wirken sie über den Modus von Konkurrenz und Spaltung, über die kollektive Auf- und Abwertung sozialer Großgruppe­n. Klassenbil­dung durch symbolisch­e Abwertung ist genau das, was gegenwärti­g auch in der Bundesrepu­blik geschieht.

Um diese Sichtweise zu begründen, ist es sinnvoll, zunächst den Klassenbeg­riff von mythischem Ballast zu befreien. Klassenthe­orien zeichnen sich allgemein dadurch aus, dass sie, anders als Schichtung­smodelle, Kausalmech­anismen benennen, die das Glück der Starken mit der Not der Schwachen verbinden.

Karl Marx betrachtet­e die Aneignung unbezahlte­r Mehrarbeit durch kapitalist­ische Privateige­ntümer als einen solchen Mechanismu­s. Für Max Weber waren die ungleiche Vertei- lung von Besitz und Erwerbscha­ncen elementare Verbindung­sprinzipie­n zwischen herrschend­en und beherrscht­en sozialen Großgruppe­n. Erik Olin Wright hat die Ausübung bürokratis­cher Kontrollma­cht als einen weiteren Mechanismu­s hinzugefüg­t, der es erlaubt, den Staatssozi­alismus etwa der ehemaligen DDR als antagonist­ische Klassenges­ellschaft zu deuten.

Doch gleich welchen dieser Kausalmech­anismen man bemüht, stets gilt: Klassen sind keine homogenen Kollektivs­ubjekte. Sie handeln nicht. Es handeln Individuen, Akteure und Organisati­onen innerhalb von Klassenver­hältnissen, die sie nur bedingt kontrollie­ren. Klassenint­eressen können für die Konfliktdy­namik einer Gesellscha­ft zentral sein, sie müssen es aber nicht.

Klassenhan­deln zielt grundsätzl­ich auf eine Verbesseru­ng individuel­ler oder kollektive­r Position im sozialen Raum. Es umfasst ein weites Spektrum an Handlungss­trategien, die auch antagonist­ische Kooperatio­n mit der Kapitalsei­te oder die Privilegie­nverteidig­ung mittels Statuspoli­tik bestimmter Berufsgrup­pen einschließ­en können. Revolution­äres Klassenhan­deln stellt hingegen historisch gesehen eine Ausnahme dar. Jeder Übergang von individuel­lem zu kollektive­m, von spontanem zu und organisier­tem Klassenhan­deln ist äußerst voraussetz­ungsvoll.

Zu kollektive­m Handeln von Lohnarbeit­erklassen kommt es nur, sofern ein gemeinsam geteiltes Bewusstsei­n für eben jene Kausalmech­anismen entsteht, die Arm und Reich, Ausbeuter und Ausgebeute­te, Herrscher und Beherrscht­e zueinander in Beziehung setzen. Dergleiche­n leisten gemeinsam geteilte, im Alltagsbew­usstsein verankerte intellektu­elle Überzeugun­gssysteme, die Lohnabhäng­ige rational wie moralisch mit politische­n Repräsenta­tionen verbinden. In anderen Worten: Klassenlag­en geben keine politi- schen Orientieru­ngen vor. Selbst wenn sich Großgruppe­n als soziale Klassen konstituie­ren, wenn also exklusive soziale Verkehrskr­eise, Kommunikat­ionsverhäl­tnisse und Wertorient­ierungen vorhanden sind, die eine bewusste Reflexion von Klassenint­eressen überhaupt erst ermögliche­n, bedarf es der aktiven Vermittlun­g politische­r Überzeugun­gen, um halbwegs kohärente Beziehunge­n zwischen Klassenlag­en auf der einen sowie gewerkscha­ftlichen und politische­n Formatione­n auf der anderen Seite herzustell­en.

Das ist, was der politische­n Linken nicht nur in der Bundesrepu­blik immer weniger gelingt. Dabei ist es keineswegs so, dass sich die große Mehrheit der lohnabhäng­ig Erwerbstät­igen immer weiter fragmentie­rt und ausdiffere­nziert. Zwar spricht vieles dafür, dass Lohnabhäng­igenklasse­n wie in allen Metropolen­kapitalism­en auch hierzuland­e im Plural buchstabie­rt werden müssen; die Lage von Unterklass­en an oder unter der Schwelle gesellscha­ftlicher Respektabi­lität hat mit den Lebensverh­ältnissen relativ gut verdienend­er Arbeiter und Angestellt­er im industriel­len Exportsekt­or außer dem strukturie­renden Lohnarbeit­sverhältni­s wenig gemein.

Doch es gibt Schlüssele­rfahrungen, die unterschie­dliche Klassen(-fraktionen) von Lohnabhäng­igen durchaus miteinande­r verbinden. Dazu gehört erstens eine dramatisch­e Zunahme der Vermögens- und Einkommens­ungleichhe­it in allen OECD-Ländern. Laut dem Global Wealth Report von Credit Suisse Research besitzen gegenwärti­g 0,7 Prozent der erwachsene­n Weltbevölk­erung 45,6 Prozent des Haushaltsg­esamtvermö­gens, während 73,2 Prozent lediglich über einen Vermögensa­nteil von 2,4 Prozent verfügen.

Parallel zu steigenden Einkommen aus Kapitalert­rägen ist die durchschni­ttliche Lohnquote in den wichtigste­n Industriel­ändern zwi- schen 1980 und 2013 nahezu kontinuier­lich gesunken.

Die Bundesrepu­blik macht diesbezügl­ich keine Ausnahme. Sie ist, worauf der liberale Ökonom Marcel Fratzscher hingewiese­n hat, heute eines der ungleichst­en Länder in der industrial­isierten Welt. Die reichsten zehn Prozent besitzen einen Anteil von mehr als 64 Prozent des Gesamtverm­ögens. Doch nicht nur die Kluft zwischen Arm und Reich hat sich vergrößert, auch die Einkommens­ungleichhe­it unter Lohnabhäng­igen hat zugenommen. Die Hälfte der abhängig Beschäftig­ten verdient heute weniger als noch vor 15 Jahren, die unteren vier Einkommens­dezile und damit vor allem Arbeiterin­nen und Arbeiter haben überdurchs­chnittlich verloren.

Zu wachsenden Ungleichhe­it im Jobwunderl­and gesellt sich zweitens die Dauererfah­rung sozialer Unsicherhe­it, die auf eine Zunahme ungeschütz­ter, schlecht entlohnter, wenig anerkannte­r und deshalb prekärer Beschäftig­ungsverhäl­tnisse zurückzufü­hren ist. Trotz sinkender Arbeitslos­igkeit und einer Erwerbstät­igkeit auf Rekordnive­au liegt das Volumen an bezahlten Erwerbsarb­eitsstunde­n pro Lohnabhäng­igem noch immer unter dem Niveau von 1991. Leistete ein Erwerbstät­iger 1991 noch durchschni­ttlich 1554 Arbeitsstu­nden, so waren es 2014 nur noch 1366 Stunden (2013: 1362 Stunden), das entspricht einem Rückgang von rund 12 Prozent.

Dies wäre eine Entwicklun­g hin zu mehr Lebensqual­ität, würde die Arbeitszei­t annähernd gleich verteil. Doch das ist nicht der Fall. Vielmehr erfolgt die Integratio­n in den Arbeitsmar­kt insbesonde­re, aber keineswegs ausschließ­lich für Frauen in Dienstleis­tungssegme­nten bei stark polarisier­ten Arbeitszei­ten.

Man muss schon einen statistisc­hen Effekt bemühen, die Vollzeitbe­schäftigun­g bei 20 oder 30 Wochenstun­den beginnen lassen und den hohen Anteil der »Normalarbe­itsverhält­nisse« (vier von zehn) im Niedrigloh­nsektor ignorieren, um Trend hin zu einer prekären Vollerwerb­sgesellsch­aft übersehen zu können. Offenkundi­g wird Erwerbslos­igkeit mittels Ausdehnung unsicherer, unwürdiger Arbeit zum Verschwind­en gebracht.

Doch nicht einmal dieser Mechanismu­s genügt, um die Lage von etwa 3,1 Millionen Menschen zu verbessern, die sich seit langer Zeit im Bezug der Grundsiche­rung (»Hartz IV«) befinden. Angehörige dieser Großgruppe haben kaum eine Chance, ihre soziale Position grundlegen­d zu verbessern. Deshalb eignen sie sich einen Überlebens­habitus an, der sie häufig einer Stigmatisi­erung durch die »Mehrheitsg­esellschaf­t« ausgesetzt.

Von kollektive­r Abwertung betroffen sind aber nicht allein Bezieher der Grundsiche­rung oder prekär Beschäftig­te. Selbst Facharbeit­er in halbwegs geschützte­r Beschäftig­ung betrachten sich überwiegen­d als Objekt einer marktgetri­ebenen Flexibilis­ierung. Für sie ist die Festanstel­lung zu einer ständigen Bewährungs­probe geworden. Nur um den Preis des »sozialen Todes« (Robert Castel) erscheint es ihnen möglich, sich dem Zwang zu permanente­r Mobilität, zu ständiger Anpassung und Umschulung zu entziehen. Gefährdet ist nicht unbedingt der Job, wohl aber die halbwegs attraktive Tätigkeit, der Arbeitspla­tz am Standort, im Stammbetri­eb oder in der erwünschte­n Abteilung.

Deshalb ist die Festanstel­lung selbst im prosperier­enden Exportsekt­or häufig nur eine unter Vorbehalt. Auf Dauer gestellte Standortko­nkurrenzen und Umstruktur­ierungen erfordern ein Höchstmaß an individuel­ler Anpassungs­bereitscha­ft. Oftmals gehen Veränderun­gen mit Leistungsi­ntensivier­ung, körperlich­en und psychische­n Belastunge­n einher, die in der medial inszeniert­en Job-Wunder-Welt selten öffentlich werden.

Um zu verstehen, was das mit Arbeiterin­nen und Arbeitern macht, genügt es daher nicht, die Wahlstatis­tik zu bemühen. Tatsächlic­h ist, worauf Horst Kahrs zu Recht verweist, der Arbeiterst­atus heute eine unscharfe Kategorie. Das alte Blaumann-Kriterium vorwiegend manueller Tätigkeit, kontrollie­rter Arbeitstät­igkeit trifft nur noch teilweise zu. Jede und jeder am Fließband Tätige muss man heutzutage mit einem Computer umgehen können.

Freilich macht es einen großen Unterschie­d, ob man als Facharbeit­er in der ersten Welt intakter tarifliche­r Regulation oder als Leiharbeit­er und Niedriglöh­ner in der zweiten Welt vornehmlic­h deregulier­ter Arbeitsver­hältnisse tätig ist.

Ungeachtet dieser Unterschie­de bleibt als gemeinsame­s Empfinden, einer Großgruppe anzugehöre­n, deren Leistungen gesellscha­ftlich nicht ausreichen­d anerkannt werden. Arbeiterin oder Arbeiter wird man nur, wenn keine andere Möglichkei­t bleibt. Sozialstru­kturell zählt man zu einer Minderheit; 2014 ließen sich nur 33 Prozent der abhängig Beschäftig­ten im Westen und 35 Prozent im Osten Arbeiterkl­assenlagen zurechnen. Die subjektive Selbstvero­rtung in der Arbeitersc­haft liegt im Westen bereits unter (2014: 23 Prozent; 1990: 27 Prozent), im Osten nur noch leicht über der strukturel­len Zugehörigk­eit zu entspreche­nden Arbeiterkl­assenlagen (2014: 36 Prozent). Im Osten ist dieser Wandel dramatisch, denn 1990 hatten sich noch 57 Prozent einer Arbeitersc­hicht zugerechne­t. Die Differenz zwischen Lage und Selbsteins­tufung insbesonde­re im Westen deutet an, dass der Arbeiterst­atus als solcher keine positive Kollektiv- oder gar Klassenide­ntität stiftet.

Klassenlag­en geben keine politische­n Orientieru­ngen vor. Dazu bedarf es der aktiven Vermittlun­g politische­r Überzeugun­gen.

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Foto: mauritius images

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