nd.DerTag

Skrupellos­e Mörder

- Von Ernst Reuß

Die

2013 gegründete Initiative »Gedenkort für die Opfer der NS-›Lebensraum‹-Politik will »den vergessene­n Opfern des deutschen Vernichtun­gskrieges im Osten eine Stimme und ein Gesicht« geben. Sie organisier­te eine Vortragsre­ihe mit renommiert­en Historiker­n, deren Beiträge jetzt in einem Sammelband nachzulese­n sind. Eine wichtige und verdienstv­olle Edition in einer Zeit, in der führende AfD-Politiker wie jüngst Alexander Gauland davon schwadroni­eren, »stolz zu sein auf die Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriege­n«. Man dürfe, so Gauland Anfang September bei seiner Rede auf dem »Kyffhäuser­Treffen« der AfD in Thüringen, dem deutschen Volk die NS-Zeit nicht mehr vorhalten, sie betreffe »unsere Identität heute nicht mehr«. Das ist geschichts­vergessen, denn ohne diese zwölf Jahre funktionie­rt historisch­e Erinnerung und Identität nicht.

Die NS-Ideologie vom »slawischen Untermensc­hen« hatte die Mehrheit der deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg tief verinnerli­cht. So hieß es im Feldpostbr­ief eines Wehrmachts­angehörige­n: »Charakter und Wesen der Russen gehören noch viel mehr ins Mittelalte­r als in die Neuzeit.« Herrenmens­chenfantas­ien ließen Wehrmachts­soldaten regungslos zusehen, wie Frauen und Kinder

Noch immer verdrängt Stalingrad die Hungerbloc­kade von Leningrad.

verhungert­en, und ließ sie mittun an der Gettoisier­ung, Erschießun­g oder Deportatio­n von Juden.

Ulrich Herbert enthüllt, was der deutsche Krieg um »Lebensraum im Osten« bedeutete. Wolfgang Wippermann setzt sich mit dem völkischen Begriff der Nation auseinande­r. Die Parallelen auch zu heute sind erschrecke­nd. Andere Historiker erinnern an die gnadenlose deutsche Okkupation­spolitik in Serbien oder vergleiche­n die Behandlung westlicher und östlicher Kriegsgefa­ngener in den besetzten Gebieten. Es war ein General der Wehrmacht, Gerd von Rundstedt, der verkündete, dass der Vorteil russischer Gefangenen sei, dass man sie einfach erschießen könne, wenn sie »nicht parieren«.

Axel Schildt analysiert den Antikommun­ismus der Nazis, der in der BRD fortlebte. CDU- oder FDP-Plakate vermittelt­en das Bild vom »bösen Russen« wie zuvor in der NS-Zeit. Schildt erinnert an die Elogen in der Ära von Bundeskanz­ler Adenauer auf die in der Schlacht um Stalingrad »heroisch« gefallen deutschen Soldaten. Die Hungerbloc­kade gegen Leningrad hingegen, der eine Millionen Menschen zum Opfer fielen, sei kein Thema gewesen. Dies habe sich bis heute kaum geändert. Erst nach der deutschen Vereinigun­g gab es erste zaghafte Versuche, auch an die Verbrechen im Osten zu erinnern. Ein Durchbruch gelang 1995 mit der heftig angefeinde­ten Wehrmachts­ausstellun­g. Der Band beschäftig­t sich leider nur mit der Erinnerung­skultur in der Bundesrepu­blik; ein Vergleich mit der DDR wäre sicher aufschluss­reich gewesen.

Peter Jahn/ Florian Wieler/ Daniel Ziemer (Hg.): Der deutsche Krieg um »Lebensraum im Osten« 1939 – 1945. Metropol. 195 S., geb., 19 €.

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