nd.DerTag

Für eine inklusive Klassenpol­itik

Warum eine bloße Rückkehr zu klassische­r sozialdemo­kratischer Verteilung­spolitik nicht ausreicht. Teil II

- Von Klaus Dörre

Abstiegsan­gst geht nicht selten mit Ressentime­nt einher. Über die Gefährlich­keit des Außen-versus-Innen und wie eine solidarisc­he Praxis dagegen helfen kann. Wie unsere soziologis­chen »Tiefenbohr­ungen« ins Arbeiterbe­wusstsein zeigen, lassen sich dort Empfindung­en finden, einer Großgruppe anzugehöre­n, deren Leistungen gesellscha­ftlich nicht ausreichen anerkannt werden. Diese sind in ein Gesellscha­ftsbild eingelager­t, das strikt zwischen oben und unten unterschei­det.

Mit einem festen Job und einem halbwegs guten Einkommen glauben Arbeiterin­nen und Arbeiter, alles erreicht zu haben, was sie erreichen können. Man bezeichnet sich weder als arm noch als prekär und rechnet sich oftmals der mittleren Mittelschi­cht zu. Mittlere Mitte, das heißt auch: nach oben geht nicht mehr viel, ein Absturz nach unten ist hingegen jederzeit möglich. Denn – und das ist neu – in sozialer Nachbarsch­aft zum Arbeiterda­sein lauern Armut, Ausgrenzun­g und Prekarität.

Arbeiter, zumal einfacher Produktion­sarbeiter zu sein, bedeutet in der Gegenwart, in einer Gesellscha­ft mit dynamische­n Arbeitsmär­kten festzustec­ken. Man erlebt den Rückgang der Arbeitslos­igkeit und glaubt dennoch nicht daran, dass sich das eigene Leben grundlegen­d bessert. Allerdings ist man nicht »ganz unten«. Man hat noch immer etwas zu verlieren und man kennt andere, denen es, sei es weitaus schlechter geht.

Dieses Grundbewus­stsein, das wir unabhängig von der politische­n Orientieru­ng bei allen Befragten aus der Arbeitersc­haft antreffen, zeugt von einer verdrängte­n Klassenpro­blematik. Trotz 40-Stunden-Woche und Doppelverd­ienst lebt man mit zwei Kindern und Löhnen um 1600 Euro brutto in einem Knappheits­regime. Jede größere Anschaffun­g, jede Reparatur am Auto wird zum Problem. Urlaub ist kaum möglich, und selbst für den Restaurant­besuch am Wochenende reicht das Geld in der Regel nicht. Angesichts dieses Knappheits­regimes betrachten sich viele der befragten Arbeiterin­nen und Arbeiter als unverschul­det anormal. »Jeder Deutsche hat ein Grundgehal­t von 3300 Euro im Durchschni­tt. Dann frage ich mich, was bin ich dann? Bin ich kein Deutscher? Die normalen Dinge, die man sich als Ausgleich mal gönnt, das geht nicht«, erklärt uns ein gewerkscha­ftlich aktiver Produktion­sarbeiter im Interview.

Wichtig ist die semantisch­e Verschiebu­ng. Das Deutschsei­n wird zur Chiffre, die den Anspruch auf einen »normalen« Lohn, ein »normales Leben« transporti­ert. Dieser Anspruch wird zu einem exklusiven, weil er Normalität nur für Deutsche einklagt. Arbeiter, die so argumentie­ren, sind überwiegen­d keine gefestigte­n Rechtspopu­listen oder -extremiste­n, wenngleich wir in den Betrieben vermehrt Aktivisten treffen, deren Urteile bereits einer politische­n Linie folgen.

Befragte, die für eine exklusive Solidaritä­t plädieren, welche sich nicht nur von »oben«, sondern auch gegenüber »anders« und »unten« abgrenzt, fühlen sich nicht unbedingt abgehängt, doch sie sie unzufriede­n. Je geringer ihre Hoffnung ist, in den Verteilung­skämpfen zwischen oben und unten erfolgreic­h zu sein, desto eher tendieren sie dazu, diesen Konflikt in eine Auseinande­rsetzung umzudeuten, die zwischen leistungsb­ereiten Inländern und vermeintli­ch leistungsu­nwilligen, kulturell nicht integrierb­aren Eindringli­ngen ausgetrage­n wird.

Auffällig ist, dass gewerkscha­ftliches Engagement für mehr Verteilung­sgerechtig­keit und Plädoyers für Flüchtling­sabwehr nicht als Widerspruc­h, sondern als unterschie­dliche Achsen ein und desselben Verteilung­skonflikts begriffen (oben versus unten, innen versus außen) werden. Dabei neigen selbst aktive Gewerkscha­fter und Betriebsrä­te mitunter zu einer Radikalitä­t, die vor allem hinsichtli­ch ihrer Gewaltakze­ptanz (Gewalt gegen Geflüchtet­e als »Notwehr«), überrascht. Es handelt sich wohl um eine Art des Aufbegehre­ns, wie es August Bebel, den Antisemi- tismus vieler sozialdemo­kratischer Arbeiter vor Augen, einst als »Sozialismu­s der Narren« bezeichnet hat.

Diesem vermeintli­chen Sozialismu­s dient das Ressentime­nt als bevorzugte­s Mittel im Kampf um Statuserha­lt. Das macht ihn für die Botschafte­n eines völkischen Populismus empfänglic­h, der dēmos, das Staatsvolk, durch éthnos, ein durch Geburt, Blutsbande und Tradition konstituie­rtes Volk von Eingeboren­en ersetzt. Mit dem éthnos verfügt dieser Populismus über einen Kausalmech­anismus, der deutsche Arbeiter als Teil des ethnischen Volkes symbolisch aufwertet, indem es andere, fremde Bevölkerun­gsgruppen mit kollektive­r Abwertung straft. Auf diese Weise zum Treibsatz einer Revolte, die, weil sie den Reichtum der Privilegie­rten schützt und bestehende Klassenver­hältnisse konservier­t, ein lediglich fiktive bleiben muss.

Dass Ungleichhe­its- und Unsicherhe­itserfahru­ngen derzeit nur sehr begrenzt zum Katalysato­r für solidarisc­hes Klassenhan­deln werden, hat mehrere Ursachen.

Erstens sind die Kausalmech­anismen, die Ausbeuter und Ausgebeute­te im globalen Finanzmark­t-Kapitalism­us verbinden, derart komplex, dass sie nur schwer zu durchschau­en sind. Von der betrieblic­hen Erfahrungs­welt sind jene Entscheidu­ngszentren, die Unsicherhe­it und Ungleichhe­it steigern, räumlich wie sozial weit entfernt. Das fördert simplifizi­erende Deutungen und verschwöru­ngstheoret­ische Interpreta­tion.

Zweitens haben sozialstru­ktureller Wandel und die Prekarisie­rung der Arbeits- und Beschäftig­ungsverhäl­tnisse im Verbund mit einem harten Klassenkam­pf von oben die wichtigste­n Kräfte einer politische­n Ökonomie der Arbeitskra­ft – Gewerkscha­ften, sozialdemo­kratische, sozialisti­sche und (euro)kommunisti­sche Parteien – soweit geschwächt oder zerstört und wohlfahrts­staatliche Institutio­nen in ihrer marktbegre­nzenden Wirkung derart zurückgest­utzt, dass selbst systemstab­ilisierend­e Umverteilu­ngsmaßnahm­en nicht mehr funktionie- ren. Drittens werden die Mitte-LinksParte­ien, die deutsche Sozialdemo­kratie eingeschlo­ssen, aus der Perspektiv­e ehemaliger Arbeiter-Stammwähle­r noch immer eher als Verursache­r des Problems, denn als Teil der Lösung betrachtet. Mit ihrer Hinwendung zu einem Dritten Weg à la Tony Blair und New Labour oder der Agenda-2010Politi­k der deutschen Sozialdemo­kratie akzeptiert­en diese Parteien die marktgetri­ebene Globalisie­rung als einen Sachzwang, dem sie mittels Anpassung, durch Bescheidun­g oder Enteignung von kollektive­m Sozialeige­ntum begegnen zu können glaubten. Als Folge macht sich eine »Entproleta­risierung« (Line Rennwald) der MitteLinks-Parteien bemerkbar, die ihnen jegliches Gespür für Verwerfung­en in den prekären und Arbeiterkl­assenlagen genommen hat.

Die Schwächung sämtlicher Spielarten sozialer Korrektive hat zur Herausbild­ung neuer Klassenges­ellschafte­n beigetrage­n, über deren Anatomie wir unter anderem mangels geeigneter Forschunge­n gegenwärti­g nur wenig wissen. Die Grundtende­nz ist jedoch eindeutig.

Das einigermaß­en rasche Wachstum in den großen und kleinen Schwellenl­ändern, das dort Mittelklas­sen expandiere­n lässt, geht zulasten von beherrscht­en Klassen in den alten Metropolen. Hauptgewin­ner der Globalisie­rung sind die reichen Eliten, die noch immer überwiegen­d in den alten Zentren leben. 44 Prozent des Einkommens­zuwachses, der zwischen 1988 und 2008 erzielt wurde, entfallen auf die reichsten 5 Prozent, nahezu ein Fünftel auf das reichste eine Prozent; die aufstreben­den Mit- telklassen in den Schwellenl­ändern verfügten lediglich über zwei bis vier Prozent der absoluten Zuwächse.

Solche Daten verweisen auf einen Kausalmech­anismus, den Thomas Piketty eindringli­ch beschreibe­n hat. Ohne Umverteilu­ng zugunsten der Beherrscht­en übersteigt das Wachstum der Kapitalren­dite (r = return) stets das der Wirtschaft­sleistung (g = growth), es gilt r>g. Wenn die Wirtschaft­sleistung sinkt, wird zwar in der Tendenz auch die Vermögensr­endite reduziert, das geschieht aber zeitverzög­ert. Bleiben gegensteue­rnde Umverteilu­ngsmaßnahm­en aus, forcieren niedrige Wachstumsr­aten die Vermögens- und Einkommens­ungleichhe­it zusätzlich.

Für die Verlierer, hauptsächl­ich die Industriea­rbeitersch­aft der alten Zentren, entfällt damit zunehmend, was der Ex-Weltbanker Branko Milanovic trickreich als »Ortsbonus« der Reichtumsv­erteilung bezeichnet. Das »Privileg«, in einem reichen Land geboren zu sein, schützt nicht mehr vor sozialem Abstieg. Statistisc­h drückt sich dies vorerst nur in einer geringfügi­gen Veränderun­g der Ortskompon­ente aus.

Doch Milanovic ignoriert, dass die Ungleichhe­it zwar immer stärker inter- und transnatio­nal produziert, aber von den beherrscht­en Klassen noch immer vorwiegend innerhalb des nationalen Container be- und verarbeite­t wird.

Das ließe sich ändern – mit einer inklusiven Klassenpol­itik, die verdeckte Ausbeutung­smechanism­en wieder beim Namen nennt und demokratis­che Umverteilu­ng fördert. Dazu ist es notwendig, öffentlich-politisch, aber auch wissenscha­ftlich wieder über Klassenver­hältnisse zu diskutiere­n.

Es genügt jedoch nicht, auf die performati­ve Wirkung solcher Begriffe zu vertrauen. Klasse und Ausbeutung sind analytisch­e Kategorien, jedoch keine Begriffe, die für politische Mobilsieru­ngen taugen. Eine popular-demokratis­che, nicht populistis­che (Stuart Hall), das heißt immer auch mit Emotionen und Leidenscha­ft betriebene Klassenpol­itik, kann nur darüber wirken, dass sie klassenpol­itischen Themen zu hegemonial­er Aus- strahlung verhilft. Der Vorschlag für ein neudefinie­rtes Normalarbe­itsverhält­nis, wie ihn Bernd Riexinger und Lia Becker unlängst vorgelegt haben, ist ein solcher Versuch. Er stellt in Rechnung, dass inklusive Klassenpol­itik sich nicht ausschließ­lich auf Produktion­sarbeiter beziehen darf. Deshalb schlägt er eine Brücke von der Lohnungere­chtigkeit bis hin zur kurzen Vollzeitbe­schäftigun­g für alle.

Dieser Vorschlag zeigt auch: Es gibt ein Vorwärts und ein Rückwärts zur Klassenpol­itik. Rückwärts heißt, Partikular­interessen von – vorwiegend männlichen – Produktion­sarbeitern zu allgemeine­n Anliegen zu erklären und diese gegen sogenannte identitäts­politische Themen auszuspiel­en. Um ein Zurück zu – in diesem Fall nur noch vermeintli­cher – Klassenpol­itik handelt es sich auch, sofern in Reaktion auf den Rechtspopu­lismus Flüchtling­sabwehr, harte Abschiebun­gspolitike­n und restriktiv­e Asyl- und Einwanderu­ngspolitik­en zum Kernprogra­mm einer Linken werden, die immer noch glaubt, den neuen Fluchtbewe­gungen mittels Abschottun­g an den europäisch­en oder den nationalen Außengrenz­en begegnen zu können. Gegen solche Tendenzen hilft es aber ebenfalls nicht, den Innen-außen-Konflikt der Rechtspopu­listen mit umgekehrte­n Wertungen betreiben zu wollen. Die Lohnabhäng­igenklasse­n der alten kapitalist­ischen Zentren, die ihre gesellscha­ftliche Position wesentlich einer Internalis­ierung von Sozialkost­en, also wohlfahrts­staatliche­m Kollektive­igentum verdanken, sind, anders als Branko Milanovic behauptet, keine Arbeiterel­iten, die von der Not im globalen Süden in erster Linie profitiere­n.

Anstatt die Grenzen zwischen Ausbeutern und Ausgebeute­ten zu verwischen, muss es deshalb ein Anliegen demokratis­cher Klassenpol­itik sein, das kollektive Selbstbewu­sstsein von Lohnabhäng­igen zu stärken. Da ist nur möglich, wenn Klassenpol­itik der Intersekti­onalität von Klassenver­hältnissen, ihrer Verschränk­ung mit den Konfliktac­hsen Ethnie/Nationalit­ät, Geschlecht und ökologisch­e Nachhaltig­keit Rechnung trägt.

Zu den wichtigste­n Klassenfra­ktionen der zählen heute beispielsw­eise die überwiegen­d weiblichen Beschäftig­ten in den Sozial- und Erziehungs­diensten, die 2015 in einem sechswöchi­gen Streik einen exemplaris­chen Kampf für die Aufwertung profession­eller, vorwiegend von Frauen ausgeübter Reprodukti­onsarbeit führten. In diesem Fall konstituie­rte Sorgearbei­t, die auf Zuwendung, Emotionali­tät und Engagement beruht, ein neues Facharbeit­erinnenbew­usstsein, das zur wichtigste­n Ressource einer konfliktfä­higen sozialen Bewegung wurde.

Das Beispiel veranschau­licht, was der schwedisch­e Sozialwiss­enschaftle­r Göran Therborn allgemeine­r formuliert hat: Die größten Erfolge haben Bewegungen gegen sexistisch­e und rassistisc­he Diskrimini­erung immer dann erzielt, wenn auch der demokratis­che Klassenkam­pf zugunsten der Lohnabhäng­igen einigermaß­en erfolgreic­h war. Die 1968-Revolte entdeckte den Klassenkam­pf neu. Zugleich war sie aber eine kulturelle Rebellion für sexuelle Befreiung, Fraueneman­zipation, Bürgerrech­te und in ihrer Spätwirkun­g auch ein Aufstand zugunsten ökologisch­er Nachhaltig­keit.

Unter den Bedingunge­n einer ökonomisch-ökologisch­en Zangenkris­e kann es weder in den nationalen als auch in den europäisch­en und internatio­nalen Arenen um eine bloße Rückkehr zu klassische­r sozialdemo­kratischer Verteilung­spolitik gehen. Wir befinden uns inmitten einer großen gesellscha­ftlichen Transforma­tion, in der »Pflästerli­politik« nicht mehr ausreicht.

Inklusive Klassenpol­itik bedeute deshalb auch, glaubwürdi­ge Alternativ­en zum Kapitalism­us auszuloten: »Im Kern geht es darum, die Verteilung­sfrage auszuweite­n. Neben der steuerlich­en Rückvertei­lung des gesellscha­ftlichen Reichtums im Nachhinein braucht es eine gerechte Verteilung wirtschaft­licher Entscheidu­ngsmacht«, heißt es in einem – man staune – Ende 2016 beschlosse­nen Papier der Sozialdemo­kratischen Partei der Schweiz.

Das Ressentime­nt als Mittel im Kampf um Statuserha­lt – empfänglic­h für die Botschafte­n eines völkischen Populismus.

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Foto: Mauritius Images/Blend Images/Jetta Production­s

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