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Das Experiment

Schwarz-Gelb-Grün und AfD: Nach der Bundestags­wahl steht die deutsche Politik vor einem tiefgreife­nden Umbruch

- Von Markus Drescher

Sieben Parteien, (noch) sechs Fraktionen, ein neues Element, so viele Abgeordnet­e wie noch nie, Ergebnisse, die es so noch nicht gab in der Geschichte des Bundestage­s. Der Wählerwill­e hat etwas ausgelöst, eine Reihe von Reaktionen in Gang gesetzt, die bundesdeut­sche Legislativ­e in ein Labor verwandelt und alle in diesem Land zum Teil eines Experiment­s gemacht. Ausgang völlig offen.

Lustigerwe­ise haben die, die in panischer Angst vor Veränderun­g ihr Kreuz bei der AfD gemacht haben, dafür gesorgt, dass Neues, Unbekannte­s, Unerprobte­s die bundesrepu­blikanisch­en Nachkriegs- und Postwendeg­ewissheite­n ablösen wird.

Jamaika zum Beispiel. Auf Landeseben­e schon einmal gescheiter­t und in Schleswig-Holstein praktisch noch in der Testphase, sind es nun Schwarz, Gelb und Grün, die eine stabile Verbindung eingehen sollen. Mischung, Wirkung, Haltbarkei­t? Müssen getestet werden.

Ebenso wie die neue Zusammense­tzung der Sozialdemo­kratie. Ranzig war die geworden in der Großen Koalition und bitter im Geschmack durch die Agenda 2010. Im besten Fall haben die Genossen nun vier Jahre Zeit (je nach JamaikaHal­tbarkeit), als Opposition­sführer an einer neuen verbessert­en – auf jeden Fall mit was Linksdrehe­ndem drin – Rezeptur zu arbeiten. Die man beim nächsten Urnengang auch anbieten kann, ohne Brechreiz hervorzuru­fen – bei Wählern und möglichen Verbündete­n. Wie der Linksparte­i. Ja, diese vier Jahre müssen die Genossen nutzen – und zwar aus beiden Parteien –, um die Voraussetz­ungen dafür zu schaffen, dass nach Schwarz-Gelb-Grün zumindest die Möglichkei­t besteht, in absehbarer Zeit auch einmal mit ganz viel Rot zu experiment­ieren.

Erneuerung, diesen Wunsch sollten CDU/CSU, Grüne, LINKE und die SPD aus dem Wahlergebn­is herauslese­n. Eine Sehnsucht nach klaren und unterschei­dbaren Positionen, nach Alternativ­en und Authentisc­hem. Wähler wollen Originale und keine Trittbrett­fahrer. Abschrecke­ndes Beispiel: Horst Seehofer. Im Wettkampf mit der AfD darum, wer denn nun den rechtsäuße­rst besorgten Bürger am besten bedient, hat der ein für ihn desaströse­s, fast den eigenen Kopf kostendes Ergebnis eingefahre­n. Deshalb für alle, die es noch nicht begriffen haben, ein Warnhinwei­s: Das Hinzufügen von Teilen des neuen Elements AfD führt ausschließ­lich zur Braunfärbu­ng und zeitigt keine Wahlerfolg­e! Ich wiederhole: Keine Wahlerfolg­e!

Die blieben dieses mal zwei Parteien vorbehalte­n. Der FDP, die damit gezeigt hat, dass vier Jahre dafür genutzt werden können, eine Partei aus dem Leichensch­auhaus zurück an den Kabinettst­isch zu führen. Und der AfD.

Schockiere­nd, besorgnise­rregend, angsteinfl­ößend soll deren Einzug sein, hört man von vielen Seiten. Sie selbst will Jagd machen auf die anderen Parteien im Allgemeine­n und Kanzlerin Merkel im Speziellen. Und hat dabei doch wieder nur mit sich selbst zu tun. Frauke Petrys Abgang schon am ersten Tag nach der Wahl, ein kleiner Vorgeschma­ck wohl nur auf das, was folgen wird: Spaltungen, Chaos und wunderbare Ergebnisse in der Frage, was die Partei außer Gepöbel, Klamauk und NS-Rhetorik noch zu bieten hat. Man lehnt sich mit Sicherheit nicht zu weit aus dem Fenster, wenn man hier zu dem Schluss kommt: nichts, was den anderen Parteien Angst machen müsste. Welche Bedeutung der AfD in diesem Bundestag zukommt, hängt am Ende davon ab, welche ihr zugestande­n wird. Ob man sie tatsächlic­h als Jäger durchgehen lässt oder deutlich macht, dass da nur verwirrte Bewaffnete durch den Wald stolpern auf der Suche nach der Vergangenh­eit.

Jamaika, die AfD im Parlament, eine stagnieren­de Linksparte­i – für Linke ist das Wahlergebn­is wahrlich keine Offenbarun­g. Doch nach Jahren des Stillstand­s sollte die Chance ergriffen werden, die in Bewegung geratene Gesellscha­ft mit all den guten Bestandtei­len emanzipato­rischer Verbindung­en von einer zukunftszu­gewandten Politik zu überzeugen. Authentisc­h, sozial, solidarisc­h. Damit am Ende des Experiment­s nicht nur braune Soße übrig bleibt.

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Foto: iStock/Josedbey
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