Schmerzende Wunde
Vor drei Jahren verschwanden in Mexiko 43 Studenten.
Als Mitglied der Interdisziplinären Kommission unabhängiger Experten (GIEI) sollten Sie helfen, das Verbrechen an den 43 Studenten von Ayotzinapa aufzuklären. Doch die Täter sind bis heute nicht verurteilt. Warum?
In der Mitte unseres zweiten Mandats sind wir bei verschiedenen staatlichen mexikanischen Behörden auf Widerstände gestoßen. Sie wollten nicht, dass die Wahrheit ans Licht kommt, und haben den Fortgang unserer Arbeit verhindert. Wir konnten die Tat deshalb nicht so weit aufklären, wie wir das gerne getan hätten. Wir haben 20 Untersuchungsansätze hinterlassen sowie die Arbeit mit den Opfern, die weitergeführt werden müssen, um die Tat aufzuklären. Wir haben außerdem signalisiert, dass der Fall durchaus aufgeklärt werden kann. Es gibt einen Folgemechanismus der Interamerikanischen Menschenrechtskommission CIDH, und wir warten nun auf eine Evaluierung, die uns zeigen wird, ob unsere Untersuchungsansätze weitergeführt wurden oder nicht.
Sie haben einmal gesagt, in Mexiko gebe es eine »erlernte Machtlosigkeit«. Was meinen Sie damit?
Die Straflosigkeit im Land sorgt am Ende dafür, dass alle davon überzeugt sind, dass es keine Gerechtigkeit geben kann. Als wir mit der GIEI nach Mexiko gekommen sind, haben uns viele Menschen gesagt: ›Ihr könnt gar nichts ausrichten, man wird euch einfach nicht lassen.‹ Aber mit unserer Arbeit haben wir gezeigt, dass man durchaus eine Untersuchung machen kann, die auf objektiven Beweismitteln basiert, und dass man mit verlässlichen Daten arbeiten kann.
Ein entscheidender Punkt in Ihrer Untersuchungsarbeit war das Vertrauen der Angehörigen der Opfer. Wie haben Sie dieses Vertrauen gewonnen?
Als wir nach Mexiko gekommen sind, haben wir uns sofort mit den Angehörigen getroffen. Sie haben uns drei Dinge gesagt: Erstens ›Sie sind die Einzigen, denen wir vertrauen‹, zweitens. ›Sagen Sie uns bitte immer die Wahrheit‹, drittens ›Verkaufen Sie sich an niemanden‹. Diesen letzten Satz hatten wir fünf Experten von der GIEI davor in keinem anderen Land der Welt gehört. Er zeigt, wie groß das Misstrauen der Angehörigen gegenüber dem Staat oder staatlichen Untersuchungen in Mexiko ist. Wir haben versucht, Brücken zu bauen zu staatlichen Institutionen, weil wir glauben, dass es sehr wichtig ist, dass die Angehörigen Vertrauen haben in den Staat und dass der Staat auf glaubwürdige Art und Weise zeigt, dass er sich um die Untersuchungsarbeit und die Betreuung der Angehörigen kümmert.
Hätte auch ein mexikanisches Expertenteam dieses Vertrauen der Angehörigen erlangen können? Wenn es eine mexikanische Expertengruppe gewesen wäre, hätte es dieses Vertrauen nicht gegeben, selbst wenn es sehr gute Experten gewesen wären. Außerdem war unsere internationale Erfahrung wichtig, weil wir neue Methoden nutzen konnten, die es in Mexiko noch nicht gab, zum Beispiel bei der Arbeit mit den Angehörigen der Studenten oder bei der Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen.
Was war die Rolle der Familien der 43 Studenten? Ohne sie wären wir gar nicht erst nach Mexiko gekommen. Die GIEI ist nach Mexiko gekommen, weil die Familien über ihre Anwälte Druck gemacht haben, um die Einsetzung eines internationalen Expertenteams zu erzwingen. Bei unserer Arbeit haben wir immer die Untersuchung des Falles im Blick gehabt, aber eben auch die Situation der Familien, weil wir die Familien nicht schwächen durften. Bei all den Kämpfen um die Wahrheit geht es schließlich um die Familien, und unsere Berichte dienen ihnen als Werkzeug. Wenn es etwas gibt, was man in diesen Fällen von Verschwindenlassen braucht, so ist es die Empathie mit den Opfern. Die Untersuchung muss ihre Erinnerungen mit einbeziehen. Bei den Treffen mit Vertretern des mexikanischen Staates haben viele Familien gesagt: ›Versetzen Sie sich in unsere Lage‹, und das ist in der Tat eine sehr wichtige Übung in der Untersuchung.
Vor einigen Monaten haben Sie das Buch »El tiempo de Ayotzinapa« (»Die Zeit von Ayotzinapa«) über Ihre Arbeit in Mexiko veröffentlicht. Warum noch ein Buch, wenn die Berichte der GIEI Ihre Arbeit doch schon erschöpfend erklärt haben? Das Buch erzählt eine Geschichte, die man nicht begreift, wenn man nur die Berichte liest. Dort stehen die technischen Daten, die harten Fakten, die Analyse. Aber wenn man wissen will, was diese Arbeit für die Familien und für uns als Expertenteam bedeutet hat, dann kann man das in dem Buch nachlesen – in einer Sprache, die es erlaubt, uns bei diesem Prozess zu begleiten.
An wen richtet sich das Buch? Zuallererst an mich selbst. Mit dem Schreiben des Buches habe ich das Erlebte verarbeitet. Das Buch ist auch für die geschrieben, die uns auf diesem Weg begleitet haben – manchmal Vertreter des Staates, die uns geholfen haben, aber vor allem für die Familien, damit sie eine Geschichte lesen, die ihnen ihre Würde zurückgibt.
Was bedeutet ein Verbrechen wie das Verschwindenlassen für die Angehörigen?
Aus rechtlicher Sicht spricht man von einem dauerhaften Verbrechen. Aus psychologischer Sicht ist es eine immerwährende Wunde, weil die Opfer nicht verstehen können, was passiert ist. Es ist eine Wunde, die nicht verheilt und mit der die Angehörigen mehr schlecht als recht zu leben lernen. Diese Wunde hat schlimme Folgen, denn sie hört nie auf zu bluten. Das Problem ist, dass so das Leid der Opfer verlängert und verstärkt wird, und all das hat enorme Folgen, auch wenn sie unsichtbar bleiben. Im Fall von Mexiko sprechen die offiziellen Quellen von 26 000 bis 30 000 Verschwundenen, wenn man dies mit der Zahl der Familienangehörigen und nahen Verwandten multipliziert, dann hat man eine Vorstellung von dem riesigen Ausmaß dieser Verbrechen.