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Warum wählen?

Ein Mann hat seine Stimme am Sonntag verschenkt, ein anderer wählte gar nicht. Eine Wählerin kann beide nicht verstehen

- Von Katharina Schwirkus

Die Wahlbeteil­igung war diesmal mit 76 Prozent relativ hoch, dennoch haben viele keine Stimme abgegeben. Wir haben Bürger, die sich als links verstehen, nach ihren Motiven für ihr Wahlverhal­ten gefragt. Karl Nagel ist mit seinem Latein am Ende: »Ich habe das Gefühl, egal was ich wähle, es ist sowieso das Falsche. Die Politiker widern mich an, weil ich das Gefühl habe, dass sie mir nur noch als Masken begegnen.« Ob und was er bei der Bundestags­wahl 2013 gewählt hat, weiß er nicht mehr. »Ich möchte kein Politiker-Bashing betreiben, finde mich aber in diesem Politiker-Zirkus nicht wieder. Es gibt Ausnahmen, wie Joschka Fischer, Heiner Geißler oder Gregor Gysi, aber die sind eher selten«, führt der Punker und Webentwick­ler aus.

»Daraus ist die Idee entstanden, für meine Tochter zu wählen, die erst 14 Jahre alt ist und somit nicht selbst wählen kann«, erzählt der 56-Jährige. »Ich fände das eine gute Idee, wenn das mehr Menschen machen würden«, sagt Nagel. Was er für sei- ne Tochter wählt, verrät er jedoch nicht.

Jan R., der nicht mit ganzem Namen in der Zeitung stehen möchte, hat nicht gewählt. Er ist 25 Jahre alt und es ist das erste Mal, dass er von seinem Wahlrecht keinen Gebrauch gemacht hat. »Sonst habe ich die LINKE gewählt«, erzählt Jan. In letzter Zeit habe er jedoch viel Arbeit gehabt und sich kaum mit dem Wahlkampf beschäftig­t. Und dann war Jan am Wahltag zu Besuch in Berlin und hatte keine Briefwahl beantragt.

Jan hat keinen Fernseher und liest auch keine Zeitung. Manchmal unterhält er sich mit Freunden über Politik. Was er vermisst, ist eine Bildungspo­litik, die es Schülern erlaubt, »sich auch mal mehr auszuprobi­eren«. Seiner Meinung nach beenden viele die Schule, ohne zu wissen, was sie wirklich machen wollen. Überrasche­nd findet er an den Wahlergebn­issen, »dass die AfD so stark geworden ist. Das ist krass.«

Nagel kann mit der allgemeine­n Kritik an der AfD hingegen nicht so viel anfangen: »Ich stehe der AfD nicht nahe, habe aber das Gefühl, dass es zu einer moralische­n Frage ge- worden ist. Man muss praktisch gegen die AfD sein. Ich denke, der Umgang mit der AfD hat sie überhaupt erst groß gemacht«, findet er.

Zudem hat er ein generelles Problem mit Politikern. »Die meisten Politiker lassen einen als Menschen komplett kalt«, sagt Nagel. Karl Nagel

Denece Cheney kann diese Position nicht verstehen. »Ich finde, wir haben sehr gute Politiker«, sagt die 37-Jährige. Beispielsw­eise findet sie Sigmar Gabriel (SPD) glaubwürdi­g. »Ich finde es schade, dass er nicht die Kanzlerkan­didatur übernommen hat.« Vermisst habe sie in diesem Wahlkampf harte Diskussion­en. »Die Grünen und Linken haben nicht so kritische Fragen gestellt, die Grünen haben besonders an Kraft verloren«. Sie habe beide Stimmen der SPD gegeben, weil es sich »richtig angefühlt« habe und weil sie mehrere Politiker in der Partei kenne und wisse, wen sie wähle. Dennoch habe sie im Wahlkampf ein klares Bekenntnis der SPD zu RotRot-Grün vermisst.

Überrascht ist Cheney von der Gleichgült­igkeit, die sie gegenüber dieser Bundestagw­ahl wahrgenomm­en hat. »Vor vier Jahren haben alle gespannt auf die Hochrechnu­ngen gewartet. Dieses Jahr habe ich das nicht so erlebt«, sagt sie. Die junge Frau macht sich viele Gedanken über die Rente. Leute, die nicht wählen gegangen sind, kann sie nicht verstehen. »Ich war heute auch kaputt, aber ich habe mich gezwungen, wählen zu gehen.«

Auch wegen des Erfolges der AfD sei es wichtig gewesen, sich an diesen Wahlen zu beteiligen. Cheney kennt jemanden, der die AfD unterstütz­t: »Ich kann diese Person nicht verstehen, weil ich denke, dass die AfD gefährlich für alle ist.« Seit ein paar Monaten nehme sie stärkere kulturelle Spannungen war, erzählt Cheney, deren Vater Chinese ist. Sie selbst lebt seit zehn Jahren in Deutschlan­d. Für den Auftrieb der Rechtsauße­npartei macht sie schlechte Arbeitsver­hältnisse verantwort­lich. »Die Menschen haben Angst und können keine Energie aufbringen, um andere zu verstehen«.

Der Punker Nagel denkt, dass die zunehmende Anonymität durch das Internet zu Politikver­drossenhei­t führt und die Unterstütz­ung von rechten Position ansteigt. »Man kann diese Anonymität schon in Großstädte­n erleben. Dort werden Mülleimer umgestoßen, in einem Dorf passiert das nicht so schnell, weil es nicht so eine große Anonymität gibt.« Früher war Nagel selbst in der Anarchisti­schen Pogo-Partei-Deutschlan­ds aktiv und kandidiert­e 1998 sogar für die Kanzlersch­aft. Nach Streiterei­en trat er 2005 aus der Partei aus. »Ich denke, dass ein Internetau­sfall hilfreich wäre, damit wir uns wieder mehr begegnen und miteinande­r reden«, überlegt Nagel. »Wenn man im Internet ist, verliert man völlig das Gespür dafür, was wahr oder falsch ist. Ich habe das Gefühl, dass die Gesellscha­ft da gerade ziemlich gegen die Wand fährt.«

»Ich denke, dass ein Internetau­sfall hilfreich wäre, damit wir mehr miteinande­r reden.«

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