nd.DerTag

Kein Ende der diplomatis­chen Eiszeit in Sicht

Entspannun­g zwischen Ankara und Berlin ist vorerst nicht zu erwarten / Jamaika könnte Verhältnis zusätzlich trüben

- Von Yücel Özdemir

Die regierungs­nahe Presse sieht in Erdoğans Aufruf zum Wahlboykot­t einen Grund für das schlechte Abschneide­n von SPD und CDU. Zudem habe »antitürkis­cher Hass« der AfD geholfen. Einen Tag vor den deutschen Parlaments­wahlen titelte die türkische Zeitung »Sabah«, Erdoğans Sprachrohr in der Bundesrepu­blik: »Wir stimmen nicht für sie.« Dazu zeigte das Blatt Bilder von Angela Merkel, Martin Schulz und Cem Özdemir. Dieser »Aufruf an die in Deutschlan­d lebenden Türken« war unmissvers­tändlich eine Wiederholu­ng der Aufforderu­ng von Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdoğan vom August, weder SPD oder CDU noch Grüne zu wählen, weil diese »Feinde der Türkei« seien.

Schaut man nun auf das Wahlergebn­is, könnte man sagen, dass dieses erfreulich ist für Erdoğan und sei- ne Unterstütz­er. Schließlic­h wurden die von ihm so betitelten »Feinde der Türkei« abgestraft.

So war es wieder die »Sabah«, die nach der Verkündung der ersten Wahlergebn­isse schrieb: »Erdoğan rief dazu auf, nicht zu wählen – großer Schock für Merkel.« Dem Präsidente­n wurde also ein Anteil am schlechten Abschneide­n von CDU und SPD zugeschrie­ben. Am Aufstieg der AfD allerdings sind andere Schuld. Der ebenfalls regierungs­nahe »Star« schrieb: »Der türkeifein­dliche Hassdiskur­s von Merkel und ihrem Koalitions­partner Schulz hat den Rechtsextr­emisten genützt. Die Neonazis sind erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg ins Parlament eingezogen.« In die gleiche Richtung argumentie­rten andere Erdoğan nahestehen­den Zeitungen und TV-Kanäle.

Die auf dem Tisch liegenden Fakten sind: Die von Erdoğan als »Türkei-Feinde« bezeichnet­en Parteien haben – mit Ausnahme der Grünen – tatsächlic­h erheblich an Stimmen verloren, gewonnen hat die rassistisc­he AfD. Und sicher hat auch der Präsident dazu beigetrage­n. Es ist kein Geheimnis, dass Erdoğans Einmi- schung in die deutschen Wahlen und sein Aufruf um Wahlboykot­t der AfD genützt hat. Trotzdem erklärte beispielsw­eise der AKP-Abgeordnet­e Mustafa Yeneroğlu, dass vor allem eine »Anti-Türkei-Rhetorik die rassistisc­he Welle legitimier­t« habe.

Was bedeuten die Ergebnisse für das deutsch-türkische Verhältnis? Es ist nicht zu erwarten, dass sich die Spannungen in den Beziehunge­n beider Länder in absehbarer Zeit verringern werden. Beide möglichen Regierungs­koalitione­n – Jamaika oder Große Koalition – werden im Wesentlich­en die gleiche Türkei-Politik verfolgen wie bisher.

Auch wenn CDU/CSU, FDP und Grüne koalieren, ist es unwahrsche­inlich, dass sich die Beziehunge­n verbessern. Allein schon wegen Cem Özdemir, der aufgrund der Bundestags­resolution zum Völkermord an den Armeniern von Erdoğan und der Regierung in Ankara vor geraumer Zeit zum Feind erklärt wurde, kann sie sich weiter verkompliz­ieren. Man stelle sich nur für einen Moment vor, dass er die Türkei als Minister besucht. Von den Spannungen zwischen beiden Ländern wiederum dürften weiterhin vor allem die Nationalis­ten in der Türkei und die Rassisten in Deutschlan­d profitiere­n.

»Von den Spannungen zwischen beiden Ländern dürften Nationalis­ten in der Türkei und Rassisten in Deutschlan­d profitiere­n.«

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