Wo der Glücksvogel verschnauft
Kranich gucken – auf Ummanz im Nordosten findet derzeit ein imposantes Schauspiel statt
Es »trompetet« wieder auf Ummanz in Mecklenburg-Vorpommern – von September bis November ist Kranichzeit auf der Ostseeinsel vor Rügen. Tausende Tiere machen dort Rast auf ihrem Flug in den Süden. Der raue Wind fegt den Regen über die Felder. Wohin die Kraniche heute sind, weiß auch Karsten Buchholz nicht, der regelmäßige Kranichführungen in der Nationalparkausstellung in Waase anbietet. Waase liegt gleich hinter der Brücke über den Focker Strom, der seit 1901 die Insel Rügen mit der Insel Ummanz verbindet. Buchholz hofft, die Kraniche mit dem Fernrohr auf der Vogelbeobachtungsplattform in Tankow zu erspähen. Von Tankow aus kann er in die Udarser Wiek schauen, wo bis zu 4000 Kraniche ihren Schlafplatz haben. Der Kranichkenner stiefelt über Wiesen und Felder, zu den Teichgebieten und findet doch noch einige kleinere Grüppchen. »Offensichtlich haben sich die größeren Schwärme einen verborgenen Platz gesucht«, glaubt er.
Unvermutet lugt an diesem Tag dann doch noch die Sonne hervor. Zu Tausenden durchbrechen die Kraniche nun die Stille auf Ummanz. Versammeln sich und suchen auf den abgeernteten Feldern nach Mais- und Getreidekörnern. Die Beute scheint nicht groß zu werden. »Dennoch scharren und stochern sie sich mit dem Schnabel oft das frisch gesäte Getreide aus dem Boden, zum Leidwesen der Landwirte,« sagt Karsten Buchholz. Bie Bauern haben eine Art Vogelscheuchen auf ihren Feldern in die Erde gesetzt oder versucht, mit Ablenkfütterungen vorzubeugen. Neben Getreide fressen die Kraniche Erbsen, Bohnen, Kartoffeln, Rüben, Eicheln, Würmer, Schnecken und sogar Mäuse. In den Teichgebieten schnappen sie nach kleinen Fröschen, Fischen oder Lurchen.
Ummanz gehört zum Nationalpark »Vorpommersche Boddenlandschaft«, der mit mehr als 800 Quadratkilometer der flächenmäßig größte Nationalpark der neuen Bundesländer ist und einer der bedeutendsten Kranichrastplätze Europas. Die Insel Ummanz hat alles, was Kraniche brauchen. Feuchtgebiete, Flachwasserbereiche und großflächige Felder. Die flachen Boddengewässer versprechen sichere, gut anzufliegende Schlafplätze.
Der Ranger der Nationalparkwacht Waase, Karsten Buchholz, führt an einige der angestammten Futter- und Rastplätze. Hier machen die bis zu 1,20 Meter großen Zugvögel einen Zwischenstopp, bevor sie weiter über das brandenburgische Linum in die wärmeren Gefilde Frankreichs, Spaniens oder sogar Nordafrikas fliegen. Sie kommen aus Nord- und Nordosteuropa beziehungsweise aus dem nördlichen Mitteleuropa. Die Wintermonate mit Schnee und starken Frösten und der Futtermangel zwingen sie, ihre Heimat zu verlassen.
Die in Europa heimische Art ist der Graue Kranich, in der Fachsprache »Grus Grus« genannt. Erkennbar ist er an seinem schiefergrauen Federkleid, den langen Beinen und der »Krone«, der rot-weiß-schwarzen Zeichnung am Kopf. Die ungewöhnlich langen Federn seiner Flügel wirken wie eine »Schleppe«, wenn der Vogel majestätisch umher schreitet.
In China ist der Kranich Sinnbild für langes Leben und Weisheit. Als »Himmelskranich« soll er mit wunderbaren Eigenschaften behaftet sein. Man glaubte, dass die Seelen der Verstorbenen auf dem Rücken von Kranichen zum Himmel getragen würden. Die Bezeichnung »Vogel des Glücks« stammt ursprünglich aus Schweden. Man nahm an, dass mit dem Kranich das Frühjahr zurückkomme und mit ihm Wärme, Licht und Nahrungsfülle. Als Glücksvogel gilt er auch in Japan. Noch heute ist dort der Brauch verbreitet, zu Hochzeiten oder Geburtstagen gefaltete Papierkraniche zu überreichen.
Die Kraniche fliegen in Höhen von zweihundert bis zweitausend Metern mit Fluggeschwindigkeiten von über hundert Stundenkilometern. Während des Zuges gleiten sie oft weite über Strecken hinweg. Dabei halten sie eine gleichbleibende Geschwindigkeit von etwa 60 Stundenkilometer. An einem Tag kann der Graukranich bis zu Tausend Kilometer zurücklegen.
Die Jungvögel sind mit zehn Wochen, etwa im August, flugfähig. Sie lernen die Zugrouten von den Altvögeln. Wenn sie fliegen, bilden die Kraniche eine Keilform, immer ver- setzt hinter dem jeweils Voranziehenden. Das komme daher, erklärt Karsten Buchholz, weil die Leitvögel am meisten Kraft und Erfahrung haben. Sie führen die Gruppe an. Die Nachzügler fliegen im Windschatten des Vordermannes, in der Wirbelschleppe. Das ist der Sog, den der Leitvogel mit seinem Flügelschlag er- zeugt. Wer hinterher fliegt, wird mitgezogen und könne eine enorme Menge an Energie sparen.
Die Keilform, auch V-Formation genannt, sichere auch den Kontakt innerhalb der Gruppe, erklärt der Ranger. So würden sich die Kraniche mit ihren schmetternden Rufen verständigen. »Trompeten« sagen die Fachleute dazu. Die Kranichrufe könnten bis zu drei Kilometer weit gehört werden.
Ihr großes Stimmvolumen erhalten sie durch die enorme, bis zu anderthalb Meter lange Luftröhre. »Ihre Rufe wecken in mir eine unbestimmte Sehnsucht«, sagt Buchholz. Für manchen ist es eine Sehnsucht nach der Ferne, für andere nach Nähe; für jeden ist es eine andere.
Der Mann im olivgrünen Anzug mit der Aufschrift »Natur pur« liebt die Insel. Mit den Kranichen ist er aufgewachsen. »Wir leben hier weit ab vom Schuss. Es ist jedes Mal ein imposantes Schauspiel, wenn die Kraniche uns den Frühling ankündigen und im Herbst das Ende des Sommers einläuten.«
Der 50-Jährige gelernte Forstarbeiter war schon immer mit der Natur verbunden. Er mag die absolute Ruhe auf Ummanz. Morgens, noch vor Sonnenaufgang, wenn die einzelnen Kranichtrupps zu den Wiesen und Feldern aufbrechen und abends, etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang, wenn sie zu ihren Schlafplät- zen zurückkehren, präsentiert er den Besuchern an geeigneten Beobachtungspunkten das Naturschauspiel.
»Die Nächte verbringen die Vögel stehend im seichten Wasser oder auf Inseln. Dort fühlen sie sich sicher und geschützt vor Füchsen und Wildschweinen«, meint Buchholz.
Mit dem konzentrierten Blick durchs Fernglas oder Teleobjektiv schauen die Kranichgucker den Vögeln zu, vielleicht um dem Glück ganz nahe zu sein. Um sie nicht aufzuschrecken, sollten 300 Meter Fluchtdistanz eingehalten werden. Dichter sollte keiner die Rastplätze betreten, betont der Naturschutzwart. Werden sie erschreckt, weichen die scheuen Vögel zurück. Oder steigen auf, fast synchron, wie ein fliegender Teppich, und verschwinden zu einer anderen Futterstelle. Das ungestörte Futtern und das Anlegen von Fettreserven ist wichtig für den kräftezehrenden Weiterflug.
Der Kranichfreund Buchholz schwärmt. Am schönsten seien die berühmten Tänze der Tiere im Frühjahr. Obwohl die meisten Kranichpaare bis zum Tod eines Partners zusammen bleiben, hört das Werben nie auf. »Zuerst das Imponiergehabe. Dann beim Balztanz werden die Partner direkt angetanzt. Erstaunlich, wie die bis zu sieben Kilo schweren Vögel leichtfüßig und elegant ihre über zwei Meter breiten Schwingen öffnen, grazil und anmutig tanzen, einander hinterher jagen, sich verbeugen, neckend im Zickzack laufen oder einander umkreisen.« Buchholz ist begeistert. »Das ist Gänsehautfeeling. Das geht durch und durch. Da lebe ich auf.«
Doch im Spätherbst kommt die Stunde des Abschieds. Dann erheben sich die Kraniche in Massen, fliegen immer höher und höher, bis sie ganz am Horizont verschwinden. Wenn die Saison der Kraniche in Ummanz zu Ende geht, zieht es auch Karsten Buchholz in südliche Länder – zum Urlaub. So hat jedes seine Zeit.
Um die Kraniche nicht aufzuschrecken, sollten 300 Meter Fluchtdistanz eingehalten werden.
Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft – Ummanz-Info, 18569 Waase/Ummanz, Telefon: 038305-5348; Kranich-Informationszentrum, 18445 Groß Mohrdorf, Tel.: 038323- 80540