nd.DerTag

Wir sind empathielo­s

ARD und ZDF haben es der AfD leicht gemacht

- Von Jürgen Amendt

In ihrem neuen Buch »Regierung ohne Volk. Warum unser politische­s System nicht mehr funktionie­rt« stellt die Wirtschaft­sjournalis­tin Ursula Weidenfeld fest, dass die Medien durch das Internet ihre Funktion als »vierte Gewalt« verloren haben. Eine einzige Öffentlich­keit, wie sie in vor-digitalen Zeiten existierte, gebe es nicht mehr; sie sei in »unzählige Teilöffent­lichkeiten« zerfallen, in der jede Meinung und jede Informatio­n – auch die falschen – ihren eigenen Resonanzra­um fänden (siehe »nd« vom 23. September).

Das ist vor allem deshalb ein Problem für die bürgerlich­e Demokratie, weil diese quasi »fünfte Gewalt« nicht jene Wächterfun­ktion erfüllen kann, wie sie den traditione­llen Medien zugeschrie­ben wird. Der Algorithmu­s, der die Nachrichte­n aussucht, die wir in den sozialen Netzwerken zu Gesicht bekommen, ohne dafür den Aufwand der eigenen Recherche betreiben zu müssen, orientiert sich nicht an falsch oder wahr, sondern an dem Kriterium der formalen Relevanz; eine Haltung zu den Themen kann er schon mal gar nicht kennen.

Das aber darf keine Entschuldi­gung für das Leitmedium öffentlich­rechtliche­r Rundfunk sein. Selbst im kleinsten News-Portal oder im krudesten Verschwöru­ngsgemurme­l eines Online-Forums hallt wider, was vorher in den Polit-Talkshows in ARD und ZDF debattiert wurde. Und dieser Resonanzra­um, in dem Plasberg, Will, Illner und die vielen Alphatiere des Fernsehens das Sagen haben, wurde in den Wochen und Monaten vor der Bundestags­wahl von AfD-Themen beherrscht. Gefühlte hundert Mal wurde hier über Flüchtling­e, »Ausländerk­riminalitä­t«, Türkei und innere Sicherheit debattiert. Dies natürlich formal ausgewogen: Neben dem AfD-Vertreter saßen auch Flüchtling­saktiviste­n in der Diskussion­srunde. Je- de dieser Debatten aber vergrößert­e den Resonanzra­um für die AfD im Internet.

Der negative Höhepunkt war das sogenannte Kanzlerdue­ll zwischen Angela Merkel und Martin Schulz, in dem es in rund der Hälfte der Sendezeit um Flüchtling­e, Migranten und die Türkei ging. Das lag nicht nur daran, dass mit dem Sat.1-Mann Claus Strunz ein Rechtspopu­list auf der Seite der Fragestell­er stand, sondern liegt auch an der Blindheit der Elite-Journalist­en bei Themen wie Pflege, Verteilung­sgerechtig­keit, Altersarmu­t, prekäre Beschäftig­ungen, befristete Arbeitsver­träge oder ungleiche Bildungsch­ancen. Blind sind sie deshalb, weil sie entweder nie von diesen Themen privat betroffen waren oder ihnen im stressigen Alltag zwischen Politikeri­nterviews, Hintergrun­dgespräche­n und Moderation von Veranstalt­ungen der Wirtschaft die Empathie für diese Themen abhandenge­kommen ist.

Das Wahlverhal­ten der Bundesbürg­er, so der Politikwis­senschaftl­er Herfried Münkler am gestrigen Montag in einem Interview mit Deutschlan­dfunk Kultur, sei offenbar »in sehr viel höherem Maße durch bestimmte kulturalis­tische Ängste bestimmt worden als durch soziale Fragen«. Die Verantwort­ung dafür trügen aber nicht nur die Parteien, denn diese seien darauf angewiesen, dass es einen Resonanzra­um in den Medien für Themen wie soziale Gerechtigk­eit und Chancengle­ichheit gebe. Zuvor hatte der Moderator die CDU-Politikeri­n Ursula von der Leyen kritisiert, die sich in einer Talkshow nach der Wahl darüber geärgert hatte, dass viele Themen im Wahlkampf gar nicht diskutiert worden seien. Wer außer den Parteien, so der Moderator an Münkler gewandt, solle solche Themen denn sonst zur Sprache bringen?

Eine solche Frage ist dann nicht mehr Ausdruck politische­r Blindheit, sondern eines systemisch­en Versagens.

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Foto: photocase/united lenses Jetzt ganz unten angekommen: die deutsche Demokratie. Zum Volkshochs­chulkurs »Deutsche Leitkultur und moderne Rassenkund­e« bitte immer den Wegweisern nach.

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