Der Blutkreis-Lauf
»Der kaukasische Kreidekreis« von Bertolt Brecht am Berliner Ensemble unter der Regie von Michael Thalheimer
Es bleibt staunenswert: unser entmoralisiertes bürgerliches Strafrecht. Es behandelt alle gleich – dem schäumenden Hass wird die Robe verweigert, auch die seelische Anteilnahme bekommt kein Richteramt. Aber wie sagte Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley über den Wechsel vom Parteistaat in die Demokratie? »Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat.« Die herzlose Weisheit des Beweises hat Gewicht, nicht aber die Beweiskraft dessen, was einzig aus der Wärme eines Herzens kommt. Justitias Augentuch schützt vor Emotion. Emotion kann morden wie ein Messer. Messer gehören an keinen Gerichtsort.
Plötzlich aber wird alles anders! Denn siehe da – ein schneller Orgasmus des ganz und gar Utopischen: Das Recht wird, gegen alle Regel, befruchtend bestürmt von der wahren, parteilichen Gerechtigkeit. Der Richter Azdak spricht nämlich das Kind der reichen Gouverneurin nicht ihr zu, der erbschaftsgierigen Mutter, sondern jener Magd Grusche, die es aus den Wirren des Krieges fortzog, es durch den Winter schleppte, es aufzog – und die es nun nicht fertigbringt, das Kind aus dem Kreidekreis zu ziehen, an dessen anderem Ende die Gouverneurin zerrt.
Ein paar Minuten dauert die neue Welt: Alles wird gut. Alles wird gut? Michael Thalheimer inszenierte »Der kaukasische Kreidekreis« am Berliner Ensemble, der Richterstuhl des Azdak ist ein Holzschemel, darauf kauert sich am Ende die Grusche der Stefanie Reinsperger mit ihrem Kindsbündel, bühnenweit allein – ein Elendsbild der Verlassenheit, des Ausgestoßenseins; alle verlöschenden Scheinwerfer sprechen das Urteil für die Zukunft: Hier kannst du wahrlich schwarzsehen. Von Heiner Müller stammt die Metapher vom Verrat, der sich auf den Menschen wirft »wie ein Himmel«. Auch Grusche wirft sich wie ein großer schwerer Himmel schützend über ihr Kind, aber: Wie, wo wird sie fortan leben können in dieser wirren, brüllbösen, leerfrostigen Welt?
Ein Brecht als eine der Eröffnungspremieren am neu bevölkerten Berliner Ensemble. Und ausgerechnet jenes Stück, mit dem auch Brecht im Oktober 1954 ins Theater am Schiffbauerdamm einzog. Ankunft in einer Heimstatt damals, Präsentation einer Programmatik, des epischen Theaters – also: ein wahres Ereignis. Aber »Neues Deutschland« verweigerte die Rezension. Zu formalistisch, dieser Brecht, der damit eine weitere Lektion in Sachen sozialistischer Provinz erhielt.
Nicht mal zwei Stunden Spiel jetzt. Ein schnelles, strenges, dröhnendes, holzschnitthartes Spiel. Statt Leben kalt radiertes Tendenzgekritzel. Aber wirksam einschneidend. Und durchsetzt von Momenten berührender Nähe zwischen – Menschen. Etwa wenn Nico Holonics als Soldat das erhobene strumpfweiße Knie der geliebten Grusche küsst. Schönster Weltstillstand. Aber freilich nicht länger zu halten als ein paar Sekunden.
Gestrichen das Kolchosen-Vorspiel, mit dem Brecht die Hoffnung auf die erfinderischen Bauern und die schöpferische, uneigennützige Arbeit für die Gemeinschaft beschwor. Thalheimer braucht keine kollektivistische Pädagogik. Und das Theater ist ihm keine Fabrik für Erlösungsliteratur. Er verfremdet auf seine Weise: kein Bühnenbild; die Darsteller sitzen im finsteren Tiefgrund der Bühne, ziehen sich dort um – sechs Darsteller teilen sich siebzehn Rollen. Wie Krokodile, oft blutverdreckt, schleichen sie für ihre jeweiligen Kurzszenen nach vorn ins Halbhelle, sich die Grusche zu schnappen, die da steht, wankt, bebt, stolpert. Alles schnappt nach ihr: der Krieg, die Verwandtenkälte, die Soldatengeilheit. Und sie hält aus, hält durch.
Die faszinierende Stefanie Reinsperger in wollfester Strickjacke (drunter aber ein freudeblaues Kittelkleid) und mit überlangen weizenblonden Zöpfen – als wolle diese Grusche lieber hinaus und hinüber in ein liebliches russisches Märchen. Reinsperger ist graziös klobig, sie hat eine bezaubernd bäurische Energie, sie wird von einer Gabe zum Mitgefühl beherrscht, deren Last sie spürt, gegen die sie sich mit all ihren Leibeskräften wehrt – und die sie doch nicht bannen kann. Ein verwundbarer Fels. Komisch verzweifelt. Tanzende Schwerkraft, beherzte Scheu, feinfühliger Grobsinn. Das Doppelgeschöpf: Grusche wirkt so gepeitscht wie entfesselt; in ihrer Raserei eine Sehnsucht nach Stille; im Schrei doch ein Mühen um Dämmung, denn: Schreien entmenscht. Das alles ist hinreißend, ist fortreißend.
Hinten Live-Gitarre (Kai Brückner, Kalle Kalima), vorn rechts der Erzähler (Ingo Hülsmann). Bert Wredes Musik ist Schlachtbericht und Romanze, Klagelied und Wettersturz, ist heftiges Jaulen und feinster Seufzer. Ingo Hülsmann – mit Mikrofon und die Szenerie dunkel beschwörend, raunend übertönend – tritt immer wieder wie ein Schatten auf, er steht über den Zeiten, er ist der Überlegene, der Wissende, im Dreck der Welt ein heller Anzug, die Weste überm nackten Oberkörper: der Sänger, der Erzähler als Mann von draußen; die Stimme hat Kraft, weil sie über den Zinnen bleibt, über den Fronten.
Wissend wird und wahr bleibt, wer sich mit nichts und niemandem gemein macht? Hülsmann treibt die Geschichte voran, zündet sie mit Spannung an. Und sagt leise den vielleicht schönsten Satz, der es lohnt, einem Theaterspiel beizuwohnen: »Wer einen Hilferuf nicht hört, sondern vorbeigeht, verstörten Ohrs: Nie mehr wird der hören den leisen Ruf des Liebsten noch im Morgengrauen die Amsel.«
Bleibt die Figur des Arme-LeuteRichters Azdak. Der die KreidekreisProbe ansetzt. Der ahnt: Länger als eine historische Sternschnuppenzeit dauern wirklich menschliche Gesellschaften, Phasen also einer »goldnen Zeit beinah der Gerechtigkeit«, wohl nie. Und also haut er lieber wieder ab. Zunächst sieht er im gängigen Sozialbild einer Magd, dem eindeutig Ruppigen also, die natürliche Siegeschance gegen die zickige, zeternde Gouverneurin. Bis er das Loslassen Grusches begreift: Liebe ist stärker als Gewalt. Ein Merksatz aus dem Legendenreich, das aber hat hier sehr irdischen Boden: Der Kreis ist nicht aus Kreide, Azdak wischt mit der Hand ein Rund aus jenem Blutwasser, das ohnehin die Bühne befleckt. Das Leben ein Blutkreis-Lauf. heimer wirklich nur die Grusche zu benötigen. Den Azdak übergießt er mit dem heftigsten Blutschwall – ein ganzer Eimer muss her. Die rote Robe, als herrsche Kriegskommunismus. Tilo Nest ist ein mit Kreuz und Sternen tätowierter Clown, die schwarze Kraushaar-Perücke rückt ihn in eine Fremdheit zwischen Afrika und hiesiger Gosse. Ein hippeliger Installateur seiner selbst – der auch jene Figuren mitmimt, die ihm auf seinem Weg ins Richteramt begegnen. Ein Gaukler des Husch-husch, der seinen Text rattert, sich die Augen reibt, wenn’s rührend wird. Kein Schimmer von Gliederung, kein stufendes Tempo. Ratter, ratter. Eindrucksschwäche.
Schade, aber logisch. Thalheimer singt zu schmerzender, schmachtender E-Gitarre eine Ballade des allerorts Verruchten, darin auch das Lehrstück vom witzigen, weisen Plebejer eine Lüge wäre. Wie auch der Mann Grusches unfähig für ein hoffnungsvolles Ende ist, Nico Holonics wird zum Kriegstraumatisierten, zum schreiend Fliehenden, der das fremde Kind nicht verträgt. Noch einmal: Güte zieht keinen Dank an, Grusche ist gut, aber unglücklich. Wir wissen nichts, ehe wir nicht dafür bezahlt haben, und müssen ganz in bitterer Blöße stehen, um an Wert zu gewinnen. Da liegt sie also, die Grusche. Als läge sie auf weiter Flur allein. Nein, mit Kind. Eine sehr traurige Geschichte.
Nächste Vorstellungen am 6., 7. und 11. Oktober