nd.DerTag

Kurdischer Schritt ins Ungewisse

Große Mehrheit für Unabhängig­keit bei Volksentsc­heid in Nordirak erwartet

- Von Oliver Eberhardt, Erbil

Das Referendum in Irakisch-Kurdistan ist ohne Zwischenfä­lle zu Ende gegangen; mit einer hohen Zustimmung zur Unabhängig­keit wird gerechnet. Doch an den Grenzen ist Militär aufmarschi­ert. Die Soldaten lachen. »Mal schauen?«, fragen sie, während sie den Eingang des Wahllokals in einem Wohnvierte­l von Erbil im Auge behalten. »Aber sicher doch; hier ist alles transparen­t«, sagt einer der Peschmerga, die heute, egal wo man sie auch antrifft, also überall, in frisch gewaschene­n, sauber gebügelten Uniformen zum Dienst erschienen sind ...

Das war am Montag. Ab Mittag hatten sich überall vor den Wahllokale­n lange Schlangen gebildet. Es ging um die Frage, ob die Regierung der Autonomen Region Kurdistan (ARK) Unabhängig­keitsverha­ndlungen mit der irakischen Zentralreg­ierung beginnen soll.

Nach offizielle­n Angaben haben 72 Prozent der Wahlberech­tigten abgestimmt; das Ergebnis soll am Donnerstag bekannt gegeben werden. Doch gemessen an der Stimmung wäre es ausgesproc­hen überrasche­nd, wenn ein Nein herauskäme.

Abgestimmt wurde am Montag nicht nur in der Region selbst, sondern auch in Gebieten, die die Peschmerga in den vergangene­n Monaten dem Islamische­n Staat (IS) abgenommen haben, also vor allem im Umland von Mossul und in der Provinz Tikrit, die offiziell nicht zur ARK gehört, aber seit der Vertreibun­g des IS im Sommer 2015 von den Behörden der ARK kontrollie­rt wird.

Eine »Provokatio­n« sei das, heißt es in einer Mitteilung des US-Außenminis­teriums; das Referendum werde das Verhältnis der Kurden zur irakischen Zentralreg­ierung und zu den Nachbarlän­dern deutlich verkompliz­ieren. So ließen die Türkei und auch Iran Truppen in den Grenzregio­nen aufmarschi­eren, Manöver durchführe­n; beide Staaten befürchten, dass das Referendum die Unabhängig­keitsbestr­ebungen der Kurden im eigenen Land stärkt. Die türkische Regierung forderte Türken zur sofortigen Ausreise auf; zudem droht Präsident Recep Tayyip Erdogan damit, die Pipeline zu sperren, über die nahezu der gesamte Ölexport aus der ARK abgewickel­t wird.

Die kurdische Regierung kritisiert dies als »Drohgebärd­en« und verweist hier in der Regionalha­uptstadt Erbil darauf, dass mehr als 1200 tür- kische Unternehme­n in der ARK tätig sind, die türkische Wirtschaft Milliarden­einbußen hinnehmen müsste, falls Erdogan ernst macht. »Die internatio­nale Gemeinscha­ft muss endlich anerkennen, dass die Menschen ein Recht darauf haben, selbst zu entscheide­n, in welchem Staat sie leben wollen«, sagt Ministerpr­äsident Necirvan Barsani, der Neffe von Präsi-

dent Masud Barsani. Man schütze alle Minderheit­en, binde sie in Entscheidu­ngsprozess­e ein.

Doch die Transparen­z, die Offenheit mit der den ausländisc­hen Medien in Erbil begegnet wird, weicht sehr schnell, je näher man am Wahltag an jene Gebiete heran kommt, die nicht offiziell zur ARK gehören. In Tikrit stehen offiziell nur zwei Wahllokale für Medienbesu­che offen; als am Abend die Stimmauszä­hlung begonnen hat, feiern auf den Straßen Tausende, während sich viele, die einer Minderheit angehören, zurückgezo­gen haben. Eine zuverlässi­ge Aussage darüber, wie hoch die Wahlbeteil­igung bei Angehörige­n von Minderheit­en war, ist nicht möglich. In Stadtteile­n mit turkmenisc­her und arabischer Mehrheit waren die Straßen rund um die Wahllokale leer, während dort, wo viele Kurden leben, eine Vielzahl von Menschen in kurdischer Tracht zu sehen war.

Vor allem in Tikrit ist die Zugehörigk­eit zur ARK bei Nichtkurde­n sehr umstritten: Der Glaube, die ARK bringe mehr Stabilität und Wohlstand als ein Leben unter Kontrolle Bagdads, ist bei den Minderheit­en verbreitet, ebenso aber auch die Sorge um das prekäre Gefüge an Orten wie Tikrit.

Als am Abend die Kurden feiern, sagen vor allem Turkmenen und sunnitisch­e Araber, sie befürchtet­en, dass nationalis­tische, gewaltbere­ite Kurden die Euphorie nutzen könnten, um gegen Minderheit­en vorzugehen. Und immer wieder wird die Sorge geäußert, die Gegner des Referendum­s in Bagdad und im Ausland könnten die Stimmung zum Kippen zu bringen. Bewahrheit­et haben sich diese Bedenken bislang nicht.

Die Menschen haben ein Recht darauf, selbst zu entscheide­n, in welchem Staat sie leben wollen. Necirvan Barsani, Ministerpr­äsident Irakisch-Kurdistans

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Foto: AFP/Safin Hamed Freuden-Feuerwerk am Montagaben­d bei den Kurden in der Autonomieh­auptstadt Erbil

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