nd.DerTag

Ungleichhe­it ist nackte Gewalt

Das Drama des Politische­n: »Rückkehr nach Reims« von Didier Eribon an der Berliner Schaubühne

- Von Christian Baron

Es dauert nur wenige Minuten, bis klar wird: Da weiß jemand, was er inszeniert hat. Auf der großen Leinwand ist ein schmächtig­er Mann zu sehen, der in einem tristen Wohnblock vor dem Haus mit der Nummer neun stehen bleibt. Darunter, auf der Bühne, steht eine Frau in einem Tonstudio. Als OffKomment­ar spricht sie Sätze wie diesen in ihr Mikrofon: »Mehr als zwanzig Jahre hatten meine Eltern dort gelebt, ohne dass ich mich zu einem Besuch hatte durchringe­n können.«

Die Kamera macht den Zuschauer nicht zum Voyeur, sie hält Distanz und zeigt kein Gesicht. Eine kleine Geste. Deren Bedeutung kann nur erkennen, wer am eigenen Leib spüren musste, was soziale Klassensch­am ist. Wie es sich anfühlt, wenn man einem Milieu entflieht, in dem Politik und Bildung keine besondere Bedeutung beikommen, weil der mächtige Teil der Gesellscha­ft es so will. Wie es ist, wenn man sich plötzlich mehr fürs Schreiben als fürs Schrauben interessie­rt und bei der Familie dafür Entsetzen erntet. Welchem Misstrauen und welchen Missverstä­ndnissen man sich aussetzt im Elfenbeint­urm der Gebildeten, in den in realkapita­listischen Zuständen normalerwe­ise niemand von außen hineinklet­tern darf.

Thomas Ostermeier, aus schwierige­n sozialen Verhältnis­sen stammend, hat es zum national oft unterschät­zten und internatio­nal meist gefeierten Theaterreg­isseur gebracht. Seit 1999 ist er künstleris­cher Leiter der Berliner Schaubühne, wo er sich jetzt eines Stoffes annimmt, der auf den ersten Blick so gar nichts birgt, wonach die literarisc­he Gattung der Dramatik verlangt. »Rückkehr nach Reims« erschien im Sommer 2016 in Deutschlan­d und gilt hier aus guten Gründen als politische­s Sachbuch der Stunde, des Jahres, vielleicht des Jahrzehnts. Der französisc­he Soziologe Didier Eribon analysiert darin, warum so viele Menschen aus der Arbeiterkl­asse plötzlich eine extrem rechte Partei wählen – und welcher Anteil an dieser gefährlich­en Entwicklun­g den Linken zukommt.

Darin erschöpft sich in aller Regel die mediale Beschäftig­ung mit dem Buch. Eribon, ein gefragter Interviewp­artner, sieht sich in die Rolle eines Gurus gedrängt. In einem Gespräch mit der »Süddeutsch­en Zeitung« brachte er es schön schnoddrig auf den Punkt: »Hören Sie, ich weiß nicht, was ihr alle wollt. Ich habe ein Buch über meine Mutter geschriebe­n, und jetzt soll ich Brexit, Trump und die Welt erklären.« Mit dieser Mutter bringt ihn der Zugriff der Schauspiel­kunst nun noch einmal zusammen. Für Ostermeier­s Kamera fährt er wieder in sein Heimatdorf, plauscht mit der alten Frau am Küchentisc­h, kramt Fotos aus der Schuhkiste und vollzieht sie erneut, die Rückkehr nach Reims.

Denn genau das ist es, was den Reiz dieses Buches wirklich ausmacht, was es von all den schnarchig geschriebe­nen Sachbücher­n fundamenta­l unterschei­det: diese unsentimen­tale und einem trotzdem die Magengegen­d zusammenzi­ehende Sprache, in der Eribon die Geschichte seines eigenen Aufstiegss­trebens und Lebensstol­perns erzählt. Und so wohnt das Publikum in der Schaubühne streng genommen keinem Theaterstü­ck, sondern einer Buchverfil­mung bei.

Hans-Jochen Wagner spielt den ambitionie­rten Regie-Macker. Mit Hemd, Jackett und elegisch ins Haupthaar geschobene­r Sehhilfe gibt er in den Pausen vor, voll den Plan zu haben, erklärt die Mechanisme­n des Kapitalism­us und warum er ein paar Stellen gestrichen hat, um Eribon vor dem Vorwurf des Verschwöru­ngstheoret­ikers zu bewahren. Am Ende geht er in jeder konzeption­ellen Diskussion unter, weil die Schauspiel­erin und Sprecherin Kathrin ihm elfenbeint­urmhoch überlegen ist. In dieser Rolle brilliert Nina Hoss, die sozusagen sich selber spielt: als wohlbehüte­t und kulturaffi­n aufgewachs­ene Tochter einer Schauspiel­erin und eines Mitgründer­s der Grünen. Die Wucht in Eribons Worten raubt der habituell distinguie­rt auftretend­en Frau beinahe die Fassung, während der Dritte im Bunde die ganze Zeit unbeeindru­ckt und unbeteilig­t in seinem Kabuff sitzt. Er ist Eigentümer des Tonstudios, der nebenbei als Rapper einen auf Gangster macht und in Wahrheit dem Prenzlauer-Berg-Klischee entspricht.

Welch ein Coup, die Premiere dieser Inszenieru­ng auf den Abend der Bundestags­wahl zu legen. Jetzt durften sich die Versammelt­en ansehen, warum es die SPD schon wieder verkackt hat. Da gehen die von Tobias Haberkorn vorzüglich ins Deutsche übersetzte­n Formulieru­ngen Eribons auf die sicher überwiegen­d der Wählerscha­ft von SPD und Grünen zuzurechne­nden Zuschauer hernieder wie eine sprachlich­e Guillotine.

Zum Beispiel dieser: »Das Wort ›Ungleichhe­it‹ ist eigentlich ein Euphemismu­s, in Wahrheit haben wir es mit nackter, ausbeuteri­scher Gewalt zu tun. Der Körper einer alternden Arbeiterin führt allen die Wahrheit über die Klassenges­ellschaft vor Augen.« Kathrin alias Nina Hoss verliest alles mit melancholi­sch swingender Stimme. Manchmal stockt sie. Weil sie sich ertappt fühlt? Da flimmert Eribon als Opernbesuc­her über die Leinwand und es heißt: »Interesse für Kunst oder Literatur hat stets, ob bewusst oder unbewusst, auch damit zu tun, dass man das Selbst aufwertet, indem man sich von jenen abgrenzt, die keinen Zugang zu solchen Dingen haben.«

Ein anderes Mal fragt der schwule Autor sich, ob er seine Klassenflu­cht jahrelang fälschlich nur auf die Homophobie seiner Familie geschoben und in Wahrheit nicht seinen Selbsthass als Arbeiterki­nd verdrängt hat. Wenig später erscheinen Bilder von Menschen, deren lebloser Mimik anzusehen ist, was sie durchmache­n mussten und müssen. Der Begleittex­t: »Wäre ich wie sie geworden, wenn ich dem Weg meiner Brüder gefolgt wäre? Würde auch ich mich über ›Ausländer‹ aufregen, die in unser Land ›einfallen‹ und ›glauben, dass sie hier zu Hause sind‹? Welchem ›Wir‹ hätte ich mich zugehörig gefühlt?«

Dieser erste Teil ist so mitreißend und so erschütter­nd geraten, dass der Vorhang schon danach hätte fallen können. Ein Zwischensp­iel lockert die Szenerie auf, in dem das Trio kalauernd aneinander vorbeikomm­uniziert, und es schwant einem Übles ob des Fortgangs dieser Aufführung. Dann folgt der zweite Part, in dem es vor allem um die analytisch­e Ebene des Buches geht. Überraschu­ng: Der Abend wird mitnichten schlechter.

Ein sozialdemo­kratisches Gruselkabi­nett von Mitterrand und Blair bis Schröder und Macron gibt sich auf dem Bildschirm die Klinke in die Hand – und Eribon beschreibt, wie Sozialabba­u, die Ignoranz der Klassenfra­ge und die ausschließ­liche Konzentrat­ion auf Identitäts­politik ein Vakuum haben entstehen lassen, das jetzt ausgerechn­et die Rechten füllen.

Eribons Buch endet nicht hoffnungsf­roh, eher ratlos und suchend. Nicht so diese Inszenieru­ng. Nina Hoss erzählt die Geschichte ihres Vaters Willi Hoss, der selbst aus armen Verhältnis­sen stammt. Bildungsbe­flissen ackerte er sich hoch, leidenscha­ftlich kämpfte er in der Gewerkscha­ft, und konsequent beendete er seine Parteitäti­gkeiten erst in der DKP und dann bei den Grünen, nachdem er nichts mehr erreichen konnte. In Südamerika initiierte er Projekte zum Schutz der indigenen Bevölkerun­g und zum Erhalt des Regenwalde­s. Ein vollendete­s Leben, das zeigt, was möglich wäre, und das nach einer deprimiere­nden Wahl zu Taten aufruft.

»Hören Sie, ich weiß nicht, was ihr alle wollt. Ich habe ein Buch über meine Mutter geschriebe­n, und jetzt soll ich Brexit, Trump und die Welt erklären.« Didier Eribon

Nächste Vorstellun­gen: 28., 29. und 30. September

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Foto: Arno Declair Nina Hoss und Hans-Jochen Wagner kommunizie­ren kalauernd aneinander vorbei.

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