Ungleichheit ist nackte Gewalt
Das Drama des Politischen: »Rückkehr nach Reims« von Didier Eribon an der Berliner Schaubühne
Es dauert nur wenige Minuten, bis klar wird: Da weiß jemand, was er inszeniert hat. Auf der großen Leinwand ist ein schmächtiger Mann zu sehen, der in einem tristen Wohnblock vor dem Haus mit der Nummer neun stehen bleibt. Darunter, auf der Bühne, steht eine Frau in einem Tonstudio. Als OffKommentar spricht sie Sätze wie diesen in ihr Mikrofon: »Mehr als zwanzig Jahre hatten meine Eltern dort gelebt, ohne dass ich mich zu einem Besuch hatte durchringen können.«
Die Kamera macht den Zuschauer nicht zum Voyeur, sie hält Distanz und zeigt kein Gesicht. Eine kleine Geste. Deren Bedeutung kann nur erkennen, wer am eigenen Leib spüren musste, was soziale Klassenscham ist. Wie es sich anfühlt, wenn man einem Milieu entflieht, in dem Politik und Bildung keine besondere Bedeutung beikommen, weil der mächtige Teil der Gesellschaft es so will. Wie es ist, wenn man sich plötzlich mehr fürs Schreiben als fürs Schrauben interessiert und bei der Familie dafür Entsetzen erntet. Welchem Misstrauen und welchen Missverständnissen man sich aussetzt im Elfenbeinturm der Gebildeten, in den in realkapitalistischen Zuständen normalerweise niemand von außen hineinklettern darf.
Thomas Ostermeier, aus schwierigen sozialen Verhältnissen stammend, hat es zum national oft unterschätzten und international meist gefeierten Theaterregisseur gebracht. Seit 1999 ist er künstlerischer Leiter der Berliner Schaubühne, wo er sich jetzt eines Stoffes annimmt, der auf den ersten Blick so gar nichts birgt, wonach die literarische Gattung der Dramatik verlangt. »Rückkehr nach Reims« erschien im Sommer 2016 in Deutschland und gilt hier aus guten Gründen als politisches Sachbuch der Stunde, des Jahres, vielleicht des Jahrzehnts. Der französische Soziologe Didier Eribon analysiert darin, warum so viele Menschen aus der Arbeiterklasse plötzlich eine extrem rechte Partei wählen – und welcher Anteil an dieser gefährlichen Entwicklung den Linken zukommt.
Darin erschöpft sich in aller Regel die mediale Beschäftigung mit dem Buch. Eribon, ein gefragter Interviewpartner, sieht sich in die Rolle eines Gurus gedrängt. In einem Gespräch mit der »Süddeutschen Zeitung« brachte er es schön schnoddrig auf den Punkt: »Hören Sie, ich weiß nicht, was ihr alle wollt. Ich habe ein Buch über meine Mutter geschrieben, und jetzt soll ich Brexit, Trump und die Welt erklären.« Mit dieser Mutter bringt ihn der Zugriff der Schauspielkunst nun noch einmal zusammen. Für Ostermeiers Kamera fährt er wieder in sein Heimatdorf, plauscht mit der alten Frau am Küchentisch, kramt Fotos aus der Schuhkiste und vollzieht sie erneut, die Rückkehr nach Reims.
Denn genau das ist es, was den Reiz dieses Buches wirklich ausmacht, was es von all den schnarchig geschriebenen Sachbüchern fundamental unterscheidet: diese unsentimentale und einem trotzdem die Magengegend zusammenziehende Sprache, in der Eribon die Geschichte seines eigenen Aufstiegsstrebens und Lebensstolperns erzählt. Und so wohnt das Publikum in der Schaubühne streng genommen keinem Theaterstück, sondern einer Buchverfilmung bei.
Hans-Jochen Wagner spielt den ambitionierten Regie-Macker. Mit Hemd, Jackett und elegisch ins Haupthaar geschobener Sehhilfe gibt er in den Pausen vor, voll den Plan zu haben, erklärt die Mechanismen des Kapitalismus und warum er ein paar Stellen gestrichen hat, um Eribon vor dem Vorwurf des Verschwörungstheoretikers zu bewahren. Am Ende geht er in jeder konzeptionellen Diskussion unter, weil die Schauspielerin und Sprecherin Kathrin ihm elfenbeinturmhoch überlegen ist. In dieser Rolle brilliert Nina Hoss, die sozusagen sich selber spielt: als wohlbehütet und kulturaffin aufgewachsene Tochter einer Schauspielerin und eines Mitgründers der Grünen. Die Wucht in Eribons Worten raubt der habituell distinguiert auftretenden Frau beinahe die Fassung, während der Dritte im Bunde die ganze Zeit unbeeindruckt und unbeteiligt in seinem Kabuff sitzt. Er ist Eigentümer des Tonstudios, der nebenbei als Rapper einen auf Gangster macht und in Wahrheit dem Prenzlauer-Berg-Klischee entspricht.
Welch ein Coup, die Premiere dieser Inszenierung auf den Abend der Bundestagswahl zu legen. Jetzt durften sich die Versammelten ansehen, warum es die SPD schon wieder verkackt hat. Da gehen die von Tobias Haberkorn vorzüglich ins Deutsche übersetzten Formulierungen Eribons auf die sicher überwiegend der Wählerschaft von SPD und Grünen zuzurechnenden Zuschauer hernieder wie eine sprachliche Guillotine.
Zum Beispiel dieser: »Das Wort ›Ungleichheit‹ ist eigentlich ein Euphemismus, in Wahrheit haben wir es mit nackter, ausbeuterischer Gewalt zu tun. Der Körper einer alternden Arbeiterin führt allen die Wahrheit über die Klassengesellschaft vor Augen.« Kathrin alias Nina Hoss verliest alles mit melancholisch swingender Stimme. Manchmal stockt sie. Weil sie sich ertappt fühlt? Da flimmert Eribon als Opernbesucher über die Leinwand und es heißt: »Interesse für Kunst oder Literatur hat stets, ob bewusst oder unbewusst, auch damit zu tun, dass man das Selbst aufwertet, indem man sich von jenen abgrenzt, die keinen Zugang zu solchen Dingen haben.«
Ein anderes Mal fragt der schwule Autor sich, ob er seine Klassenflucht jahrelang fälschlich nur auf die Homophobie seiner Familie geschoben und in Wahrheit nicht seinen Selbsthass als Arbeiterkind verdrängt hat. Wenig später erscheinen Bilder von Menschen, deren lebloser Mimik anzusehen ist, was sie durchmachen mussten und müssen. Der Begleittext: »Wäre ich wie sie geworden, wenn ich dem Weg meiner Brüder gefolgt wäre? Würde auch ich mich über ›Ausländer‹ aufregen, die in unser Land ›einfallen‹ und ›glauben, dass sie hier zu Hause sind‹? Welchem ›Wir‹ hätte ich mich zugehörig gefühlt?«
Dieser erste Teil ist so mitreißend und so erschütternd geraten, dass der Vorhang schon danach hätte fallen können. Ein Zwischenspiel lockert die Szenerie auf, in dem das Trio kalauernd aneinander vorbeikommuniziert, und es schwant einem Übles ob des Fortgangs dieser Aufführung. Dann folgt der zweite Part, in dem es vor allem um die analytische Ebene des Buches geht. Überraschung: Der Abend wird mitnichten schlechter.
Ein sozialdemokratisches Gruselkabinett von Mitterrand und Blair bis Schröder und Macron gibt sich auf dem Bildschirm die Klinke in die Hand – und Eribon beschreibt, wie Sozialabbau, die Ignoranz der Klassenfrage und die ausschließliche Konzentration auf Identitätspolitik ein Vakuum haben entstehen lassen, das jetzt ausgerechnet die Rechten füllen.
Eribons Buch endet nicht hoffnungsfroh, eher ratlos und suchend. Nicht so diese Inszenierung. Nina Hoss erzählt die Geschichte ihres Vaters Willi Hoss, der selbst aus armen Verhältnissen stammt. Bildungsbeflissen ackerte er sich hoch, leidenschaftlich kämpfte er in der Gewerkschaft, und konsequent beendete er seine Parteitätigkeiten erst in der DKP und dann bei den Grünen, nachdem er nichts mehr erreichen konnte. In Südamerika initiierte er Projekte zum Schutz der indigenen Bevölkerung und zum Erhalt des Regenwaldes. Ein vollendetes Leben, das zeigt, was möglich wäre, und das nach einer deprimierenden Wahl zu Taten aufruft.
»Hören Sie, ich weiß nicht, was ihr alle wollt. Ich habe ein Buch über meine Mutter geschrieben, und jetzt soll ich Brexit, Trump und die Welt erklären.« Didier Eribon
Nächste Vorstellungen: 28., 29. und 30. September