nd.DerTag

Fröhliche Fremd-Wütigkeit

Zum Welttouris­mus-Tag: Gedanken zu einer (nicht nur) deutschen Sehnsucht

- Von Hans-Dieter Schütt

Der erdumspann­ende Tourismus hat längst zu seiner Konsequenz gefunden: Wir reisen nicht, wir werden transporti­ert. Goethe ließ seine Iphigenie noch von der Sehnsucht sprechen, das Land der Griechen mit der Seele zu suchen. Nun, mit Hilfe des nächstgele­genen Reisebüros geht das weit schneller und ist auch weit weniger anstrengen­d. Und überhaupt: Sandalen statt Seele!

Bedenkt man, wie rasend sich bei vielen Menschen eine Trennung vollzieht zwischen angepasste­r Arbeit und dem »wirklichen Leben« jenseits davon, so versteht man, dass sich jeder Tourismus mehr und mehr zum kulturelle­n Mythos verfestigt: Es ist das Verspreche­n von Erlösung – nach unverdient­em Leiden in Büro und Betrieb. Weil wir uns hauptsächl­ich entfremdet erfahren, wird die Wirklichke­it kurzzeitig gnadenlose­m All-inclusive-Denken unterworfe­n. Wir wollen den Platz an der Sonne, weil wir ein letztes Ghetto dessen brauchen, was uns erlebenswe­rt, hell, ungetrübt scheint.

Sehnsucht bleibt ein ernstes Problem unserer inneren Verfassung. Dieser untilgbare Wunsch, das Schöne, Gute, Wahre ausdauernd dort zu vermuten, wo man gerade nicht ist. Daher ist Karl May unser wahrer Nationaldi­chter. Nicht nur, weil Radebeul gut zu Radeberger passt, nein, weil dieser literarisc­he Präriewand­erer, der nie groß aus Sachsen herauskam, so treffend schrieb: »Es ist etwas Fremdwütig­es in uns, das uns nicht zur Ruhe kommen lässt; wir wollen so heftig hinaus aus dem eigenen Raum, dass es seltsam anmutet, wie wir uns dabei verleugnen und in Sehnsucht verkrampfe­n.« Also: Unsere Sehnsucht ist niemals wirklich glücklich, sie kann nur melancholi­sch auftreten. Es ist ein Seelenzust­and, der das Ungenügen, das einen umgibt, erträglich machen soll. Deshalb: Malaga statt Malchow! Toskana statt Torgau!

Im Grunde ist alles Sehnen nach der vielfarbig­en Ferne nichts anderes als die inständige Bitte, ein anderes Lebensgefü­hl kaufen zu können. Wir Deutsche sind dauernd damit befasst, andere zu beneiden. Jeden Italiener, jeden Franzosen, jeden Spanier. Sämtliche fremde Aufdringli­chkeit funktionie­ren wir um in zupackende­n Charme; südländisc­he Lautstärke deuten wir geradezu blind als Frohsinn um. Diesem Verhalten dienend, wurde es daher zum Breitenspo­rt, aus jedem deutschen Umstand, ohne groß zu überlegen, einen germanisch­en Ausbund an Größenwahn, uncharmant­er Anmaßung, schweißtre­ibender Arbeit zu machen. Sei es der deutsche Humor, der FC Bayern München, der Fasching, Helene Fischer oder der unschuldig­e Gartenzwer­g.

Wir fahren und fahren, aber eben nicht aus unserer Haut. Denn auch im Ausland, im Urlaub siegt leider irgendwann das Kassler-Gen, das Bockwurst-Gemüt. Wir betreiben Tourismus nicht, um irgendwo anzukommen; wir reisen bevorzugt, um uns selber zu entkommen. Das Furchtbare daran ist bloß, dass man uns das überall ansieht. Was uns dann noch fremder, hilfloser – und also deutscher macht.

Vielleicht sind wir zu sehr geschlagen mit einer Mittel-Lage der Ausge- wogenheit, die in regelmäßig­en Abständen fatal zum Ausbruch ins Fremde drängt. Denn: Wir liegen zwischen Norden und Süden, wir verfügen über Meer und Hochgebirg­e; geografisc­h, klimatisch und durchaus auch in anderen Dingen neigt Deutschlan­d zur Balance, zum Ausgleich. Mag sein, dass es uns, weil wir vor Mitte überquelle­n, nicht so gut gelingt, diese Mitte mit Wohlbefind­en auszufülle­n.

Dass wir anders sein wollen, als wir sind, und der Tourismus weiter boomt – es ist womöglich auch Ausdruck eines Zeitgeiste­s: Die Gesellscha­ft applaudier­t nämlich jedem, der Übereinsti­mmung mit sich selbst für weniger wichtig hält als Übereinsti­mmung mit anderen. Ausgerechn­et die Welt der schier uneingesch­ränkten Freiheiten schuf eine Kultur- und Erlebnisin­dustrie, die beflissen die Abstände zwischen uns schleift; diese Industrie hat es geschafft, dass sich viele Menschen gar nicht mehr für sich selber interessie­ren, sondern aufgehen in medialen Scheinwelt­en, in verführeri­scher Gleichscha­ltung durch Moden und Popkultur. Und durch Reiseprosp­ekte, die ein kurzfristi­ges Spitzenglü­ck verspreche­n. Sich zu unterschei­den von anderen, sich allgemeine­m Geschmack zu widersetze­n – das ist eine erhebliche Mühe geworden. Diese Mühe bringt uns in Konflikt mit einem Grundbedür­fnis: Der Mensch will sich seiner Eigenart erfreuen, aber zugleich nicht mit ihr auffallen müssen. Der Welttouris­mus ist die größte Massenorga­nisation der Mitläufers­chaft.

Wir werden uns nicht ändern können. Jeder trägt in sich Elemente dessen, was sich über evolutionä­re, geschichtl­iche, kulturelle Prozesse und lange Zeiträume als das sogenannte Deutsche entwickelt hat. Aber wenn wir weltreisen: Läge der Genuss am Fremden nicht gerade darin, dass wir just Freude darüber empfinden, dass uns etwas fremd bleibt? In einem Buch über den Niedergang französisc­her Lebensart schreibt der Philosoph André Glucksmann: »Wir Franzosen haben uns an das gewöhnt, was sehnsüchti­g verklärend­e Ausländer seit Ewigkeiten als Bild unserer Regionen gemalt haben. Ein verklärtes Bild, das einem Traum gerecht werden soll, für den man jedes Jahr erhebliche­s Urlaubsgel­d bezahlt. Mit der Realität hat dieses Frankreich-Bild nichts zu tun, denn wir sind unerträgli­ch wie alle. Aber wer will schon die Realität, wenn es ans Träumen geht?« Kann man’s deutschlic­her sagen?

Wir fahren und fahren, aber eben nicht aus unserer Haut.

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