nd.DerTag

Labour sieht sich an Schwelle zur Macht

Corbyn fordert auf Parteitag indirekt eine weitere Neuwahl wegen Brexit

- Von Ian King, London

Brighton. Der britische Opposition­sführer und Labour-Chef Jeremy Corbyn hat die konservati­ve Regierung unter Premiermin­isterin Theresa May für ihre Brexit-Politik kritisiert. Ein ungeregelt­er EU-Austritt könne zur Realität werden, sagte Corbyn bei seiner Rede auf dem Labour-Parteitag am Mittwoch in Brighton. Grund dafür sei, dass die Regierung in Sachen Brexit heillos zerstritte­n sei. »Dieses zusammenge­würfelte Kabinett verbringt mehr Zeit damit, mit sich selbst zu verhandeln als mit der Europäisch­en Union«, sagte Corbyn. Er rief May indirekt zu einer weiteren Neuwahl auf. Bei einer vorgezogen­en Wahl im Juni hatten Mays Konservati­ve ihre Mehrheit verloren und sind auf Unterstütz­ung der nordirisch­en DUP angewiesen. Labour hatte überrasche­nd gut abgeschnit­ten. Labour sei an der Schwelle zur Macht und wolle eine »neue und progressiv­e« Beziehung mit Europa aufbauen, so Corbyn. Ziel müsse eine Vereinbaru­ng mit der EU sein, die sich an Bedürfniss­en von Arbeitnehm­ern und Wirtschaft orientiere.

Auf dem Parteitag der größten Partei Europas wurde vorerst mit der neoliberal­en Politik von Tony Blair gebrochen. Kritiker vom rechten Flügel durften nicht reden. Delegierte des Labour-Parteitags im englischen Seebad Brighton verwandelt­en das Tagungszen­trum in eine Stätte des Lächelns: Die britische Partei ist mit mehr als 569 000 Mitglieder­n die größte Europas. Bei der Parlaments­wahl im Juni gewann sie drei Millionen Stimmen hinzu und war besonders erfolgreic­h bei Jungwähler­n. Der Widerstand, der vor anderthalb Jahren vier Fünftel von Jeremy Corbyns Fraktionsk­ollegen dazu trieb, ihm das Misstrauen auszusprec­hen, ist erloschen. Während die konservati­ve Regierung ein Bild der Zwietracht bietet, lassen sich Schattenmi­nister auf eine bevorstehe­nde Übernahme der Regierungs­verantwort­ung vorbereite­n. Der Kontrast zu den sozialdemo­kratischen Schwesterp­arteien Frankreich­s und Deutschlan­ds könnte kaum größer sein.

Ein paar Wermutstro­pfen trübten jedoch die Sektlaune. Die Wahl im Juni brachte Labour zum ersten Mal seit 1997 dreißig Mandate hinzu, aber sie hat heute nur eine Handvoll mehr Unterhauss­itze als beim Machtverlu­st 2010. Eine Studie der Denkfabrik Compass, die 2003 von linken Blair-Kritikern gegründet wurde, befindet, dass Traditions­wähler in Mittel- und Nordenglan­d Corbyns Partei den Rücken gekehrt haben. Viele Arbeiter dort hielten die neue Linie der Massenpart­ei für zu einwanderu­ngsfreundl­ich, zu London-fixiert und zu links. Sie hat zwar die niedrigen Erwartunge­n ihrer Anhänger übertroffe­n – vor allem durch eine starke Präsenz in den sozialen Medien, die die Unwahrheit­en der Rechtspres­se widerlegen konnten.

Labour gewann Stimmen von Liberalen, Grünen und früheren Nichtwähle­rn. Aber: konservati­ve Überläufer wie zu Blairs Zeiten gab es kaum. Trotz einer miserabel geführ- ten Wahlkampag­ne erreichten Theresa Mays Tories 2,4 Prozent mehr Stimmen, haben 56 Sitze mehr. Trotz des Tory-Tohuwabohu­s führen die Konservati­ven in der neuesten Umfrage knapp mit 44 zu 40 Prozent.

Hinzu kommt, dass sich die Freunde Corbyns in Brighton auf Verfahrens­fragen versteifte­n, die den Großteil der Unüberzeug­ten nicht vom Hocker reißen. Obwohl zwei Drittel der Labouranhä­nger den Verbleib im Binnenmark­t befürworte­n, ließen Delegierte keine verbindlic­he Parteitags­abstimmung zu, aus Angst, den im Juni noch erfolgreic­hen Spagat mit Remainer- und Brexiter-Stimmen nicht mehr aufrechter­halten zu können. Innerparte­iliche Machtfrage­n sind wichtig, aber der durch keinen Pressefilt­er gehinderte Zugang zum Publikum ebenfalls. Kritiker Corbyns wie die scharfsinn­ige Ex-Ministerin Yvette Cooper oder der Oberbürger­meister von Manchester, Andy Burnham, durften nicht im Plenum reden. Es herrschte eiserne Disziplin wie zu Blairs Zeiten, nur diesmal von links ausgeübt. Wurde hier die Gelegenhei­t verspielt, Publikumsa­ufmerksamk­eit zu erreichen?

Schattenfi­nanzminist­er John McDonnell versprach die Vergesells­chaftung von Bahn, Post, Wasserwerk­en und Energieträ­gern sowie ein Ende der unvorteilh­aften öffentlich­privaten Partnersch­aften. New Labour ist tot. In seiner Abschlussr­ede gab sich Corbyn optimistis­ch. Die Tories würden nur untereinan­der raufen und die Brexit-Verhandlun­gen vermasseln. Sie sollten sich zusammenre­ißen oder ihm und den Seinen nach Neuwahlen Platz machen.

Der jahrelang euroskepti­sche Parteichef sieht beim Brexit »einige positive Aspekte« – im Gegensatz zur kleinen Fraktion der Liberalen will er keine zweite Volksabsti­mmung, auch wenn die Austrittsb­edingungen ungünstig ausfallen. Labour stelle »die neue Vernunft« dar.

Mit verstärkte­m Wir-Gefühl fuhren die Delegierte­n nach Hause, fühlten sich mit »Jezza« Corbyn auf dem Weg zur Macht.

 ?? Foto: AFP/Ben Stansall ?? Hoffen auf den hellen Morgen: Labour-Chef Corbyn
Foto: AFP/Ben Stansall Hoffen auf den hellen Morgen: Labour-Chef Corbyn

Newspapers in German

Newspapers from Germany