Der Krieg bleibt präsent
NATO und USA bringen mehr Besatzer nach Afghanistan.
Die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert sich. Ist der Grund dafür, dass es zu viel oder zu wenig ausländische Soldaten gibt?, fragen sich die Afghanen. »Mehr als 100 000 US-Soldaten konnten hier keinen Frieden bringen. Warum soll sich das nun ändern?«, fragt Saleh, der nahe der Ruine des Darul-Aman-Palasts in Kabul Obst verkauft. Wegen der hohen Dichte von Regierungsgebäuden ist die Gegend ein beliebtes Ziel von Anschlägen. »Ich denke, die Truppenverstärkung wird dazu führen, dass hier noch mehr Anschläge stattfinden«, meint der Obsthändler.
Vor Kurzem verkündete US-Präsident Donald Trump, dass der längste Krieg, den die USA je geführt haben, fortgesetzt werden soll. Entgegen früheren Behauptungen sagte Trump nun, dass die Präsenz von US-Truppen in Afghanistan weiterhin notwendig sei, nicht um Staaten aufzubauen, sondern um »Terroristen zu töten«. Berichten zufolge soll die Anzahl der US-Soldaten im Land um 4000 erhöht werden.
Diese Angabe sollte man allerdings mit Vorsicht genießen. Die Trump-Administration zieht nämlich auch gegen jedwede Transparenz in den Krieg. Das Pentagon hatte zuletzt verlautbart, dass gegenwärtig etwa 11 500 – und nicht wie lange behauptet 8400 – Soldaten am Hindukusch stationiert seien. In Zukunft will die US-Regierung jedoch keine Angabe mehr zur Zahl der Soldaten machen, die sich in Afghanistan und anderen Ländern im Einsatz befinden.
Viele Afghanen in Kabul betrachten die Truppenaufstockung skeptisch. »Mehr Soldaten bedeuten vor allem mehr Krieg, und das will niemand hier nach all den Jahren. Wir sind kriegsmüde«, meint Sameh, ein junger Buchhändler, der einen Stand nahe des Kabuler Basars führt. »Vielleicht sollte Washington aus Afghanistans Geschichte lernen. Sie hat gezeigt, dass westliche Soldaten hier einfach keine Chance haben«, sagt er.
Hingegen meint sein Kollege Homayun, dass keine Weltmacht den Afghanen im eigentlichen Sinn helfen wolle. »Unser Land ist ein Schachbrett – und zwar für alle. Egal, ob Amerikaner, Russen, Chinesen, Pakistaner oder Iraner. Es geht hier nur um Macht und Ressourcen und nicht um uns», meint er überzeugt.
Ein Schlächter kehrt zurück.
Auch Salahuddin, der sich als Taxifahrer durchschlägt, geht davon aus, dass mehr US-Truppen den Krieg im Land verlängern werden. »Wir brauchen eine friedliche Lösung, die alle innerafghanischen Parteien einbezieht, und nicht noch mehr Soldaten«, meint er. »Ein gutes Beispiel hierfür war der Friedensvertrag mit Gulbuddin Hekmatyar«, so der Taxifahrer.
Hekmatyar, ein bekannter Kriegsfürst und in den 90er Jahren zweimal Ministerpräsident Afghanistans, den Washington jahrelang als »Terroristen« bezeichnete, residiert seit einigen Monaten wieder in Kabul. Zuvor hatte er ein Friedensabkommen mit der afghanischen Regierung unterzeichnet. In den 80er Jahren galt Hekmatyars Mudschaheddin-Miliz, die Hizb-e Islami (»Islamische Partei«), als Speerspitze im Kampf gegen die sowjetische Besatzung in Afghanistan.
Die Miliz wurde damals von der CIA und dem pakistanischen Geheimdienst maßgeblich unterstützt. In den 90er Jahren des afghanischen Bürgerkriegs begingen die Milizen Hekmatyars ähnlich wie jene anderer Mudschaheddin-Kriegsfürsten zahlreiche Kriegsverbrechen, weshalb der Warlord auch durch den Namen »Schlächter von Kabul« Bekanntheit erlangte.
Als die NATO 2001 in Afghanistan einmarschierte, stellte sich Hekmatyar jedoch im Gegensatz zu anderen Kriegsfürsten gegen die westlichen Truppen. Somit galt der einstige Freund Washingtons plötzlich als Feind. Dass Hekmatyar »geläutert« wieder nach Kabul ziehen durfte, wird von vielen Afghanen als Erfolg des gegenwärtigen Präsidenten Ashraf Ghani gewertet. Einige Beobachter teilen diese Meinung jedoch nicht.
»Der Friedensdeal mit Hekmatyar wäre ohne Washington nicht möglich gewesen. Egal, was Ghanis Regierung ausgehandelt hat, die Absegnung kam vom Weißen Haus und hat vor allem strategische Gründe«, meint Waheed Mozhdah, ein politischer Analyst aus Kabul.
Für Mozhdah sind die Gründe dafür klar: Auch Russland hat sich Afghanistan wieder zugewendet. Mit Hekmatyar hat man aber jetzt wieder einen starken antirussischen Akteur in der Hauptstadt. Das kann kein Zufall sein.«
Nicht alle Afghanen sind mit der Rückkehr Hekmatyars einverstanden. Vor allem jene, die durch die Angriffe seiner Milizen Verwandte verloren haben, warten weiterhin auf Gerechtigkeit. »Es stimmt, dass alle Mudschaheddin-Führer Blut an ihren Händen haben. Im Fall von Hekmatyar ist das Ganze aber besonders tragisch für meine Familie. Mein Bruder und seine Ehefrau wurden getötet, als eine Rakete der Hizb-e Islami ihr Haus traf«, sagt Mohammad Yunus, ein Lebensmittelhändler.
Sie haben Kabul zerstört und sprechen über Frieden.
Auch andere Menschen in Kabul sind wütend darüber, dass den Warlords nicht Einhalt geboten wird. »Diese Männer sind doch alle Kriminelle. Mit Hekmatyars Rückkehr fühlen sie sich allerdings in ihrer Legitimation bestärkt. Dass sie über Frieden sprechen, ist eine Farce. Sie haben doch Kabul zerstört und Hunderttausende von Unschuldigen getötet«, meint Abdul Haleem, ein Obstverkäufer.
Überraschend war für viele, dass Hekmatyar von seiner Forderung, dass alle NATO-Truppen Afghanistan verlassen müssten, abgewichen ist. Auch von Afghanen hört man, dass mehr NATO-Soldaten dringend notwendig seien. »Die gegenwärtige Lage macht sehr klar deutlich, dass unsere eigenen Sicherheitskräfte nicht Herr der Lage sind. Sie brauchen diese Unterstützung«, meint der Polizist Bader. »Was bleibt uns denn anderes übrig?«, fragt er in hoffnungslosem Ton.
Die letzten Wochen und Monate waren die aufständischen Taliban auf dem Vormarsch. Nach Angaben der US-Regierung befinden sich 40 Prozent des Landes entweder bereits unter Taliban-Kontrolle oder sind in Gefahr, in deren Hände zu fallen. In fast allen Provinzen Afghanistans wird zur Zeit gekämpft. Hinzu kommen größere Anschläge in Dschalalabad, Herat und Kabul, deren Urheber nicht immer bekannt sind. Denn auch die Terrormiliz Islamischer Staat ist in Afghanistan aktiv, wobei sie nur eine kleine Rolle unter den Aufständischen spielt.
»Diese Soldaten bringen nur Unheil. Sie töten immer wieder unschuldige Menschen und kommen ungeschoren davon. Ich will sie hier nicht sehen«, beklagt sich Hajji Aref, ein Schneider. Immer wieder werden bei Einsätzen und nächtlichen Razzien Zivilisten von US-Soldaten getötet. Im Juni wurden in der östlichen Provinz Nangarhar drei Zivilisten – ein Vater und seine zwei Söhne – von US-Soldaten erschossen. Das US-Militär sprach von »Selbstverteidigung«. Die Angehörigen der Opfer wurden von der Provinzregierung mit umgerechnet 4500 Dollar entschädigt. Wenige Tage später wurden fünf weitere Zivilisten in derselben Region von USSoldaten getötet. Der Vorfall ereignete sich während einer nächtlichen Razzia der Amerikaner. Derartige Durchsuchungen, bei denen vor allem in den ländlichen Regionen Häuser gestürmt werden, sind berüchtigt und in weiten Teilen der Bevölkerung verhasst.
Es wird eine weitere Radikalisierung geben.
Auch die Luftangriffe im Land, ob durch Drohnen oder bemannte Flugzeuge, haben massiv zugenommen. Seit Beginn der Präsidentschaft Trumps fanden laut dem in London ansässigen Bureau of Investigative Journalism, das den Luftkrieg in Afghanistan beobachtet, fast 2000 Luftangriffe statt, allein im August 387. Schauplatz der Hälfte dieser Angriffe war die östliche Provinz Nangarhar, wo laut UN mehr Zivilisten als anderswo im Land durch US-Angriffe getötet werden.
Zwei weitere massive Attacken gab es in den Provinzen Herat und Logar. Die UN berichteten von mindestens 28 getöteten Zivilisten, Menschen vor Ort von mehr als 40 Toten. Ob das US-Militär oder die afghanische Armee dafür die Verantwortung trägt, ist unklar. Die UN verzeichneten im Vergleich zum Vorjahr bereits eine 43-prozentige Zunahme der Zahl der zivilen Opfer, die durch Luftangriffe verursacht werden.
»Oftmals gibt es dabei einen oder zwei tote Taliban-Kämpfer, aber viel mehr tote Zivilisten. Dazu kommen Fälle, in denen ausschließlich Zivilisten getötet wurden«, sagt Mohammad Khan, ein Einwohner aus dem Distrikt Khogyani, der regelmäßig von US-Luftangriffen heimgesucht wird. Khogyani steht unter der vollständigen Kontrolle der Taliban.
»Diese Angriffe trieben die einfachen Menschen in die Arme der Taliban«, betont er. »Wenn eine Frau oder ein Kind durch einen solchen Angriff getötet wird, steht der ganze Clan hinter uns und greift zur Waffe«, sagt ein lokaler Taliban-Kommandeur, während er auf mehrere Kämpfer zeigt, die Familienmitglieder durch Luftangriffe verloren hätten, wie er sagt. »Mein Vater wurde durch einen Drohnenangriff getötet. Deshalb kämpfe ich«, sagt ein Mann von etwa 20 Jahren.
Auch Menschenrechtsbeobachter sind sich einig, dass die Angriffe zu einer weiteren Radikalisierung führen werden. »Jeder Zivilist, der durch NATO- oder US-Streitkräfte getötet wurde, verschärft die feindliche Haltung ihnen gegenüber und die Unterstützung für aufständische Kräfte«, meint Patricia Gossmann, die Afghanistan-Rechercheurin von Human Rights Watch.