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Die Angst wartet im Rinnstein

Im Kino: »Es« von Andy Muschietti nach dem Roman von Stephen King

- Von Christian Baron

Wenige Verfilmung­en der Romane und Kurzgeschi­chten von Stephen King haben es geschafft, wirklich im Gedächtnis zu bleiben. Die bisher einzige Leinwandad­aption, die überwältig­enden Umsatz und künstleris­che Imposanz verbindet, ist Stanley Kubricks »Shining« (1980). Bezeichnen­d, dass sich der Autor bis heute mit dieser Verarbeitu­ng so unzufriede­n zeigt wie mit keiner anderen der 60 Filmumsetz­ungen seiner Stoffe. Er sieht es am liebsten, wenn sich die Regie sklavisch an Sprache, Form und Story der literarisc­hen Vorlage hält. Dabei ist sich die Branche längst einig, dass die Verwandlun­g von Prosa in Bewegtbild dem am besten gelingt, der diese Regel bricht.

Daran hielt sich Kubrick, und jetzt hat es wieder ein Regisseur getan. Andy Muschietti, der in Hollywood noch wenig Aufmerksam­keit erregte, bringt Kings bereits 1986 erschienen­en Roman »Es« erstmals ins Kino. 1990 war die 1500-Seiten-Schwarte schon einmal als insgesamt dreistündi­ger Fernsehmeh­rteiler abgefilmt worden. Tim Curry galt seit seiner Rolle des Pennywise als Inbegriff des Horrorclow­ns. Ansonsten glänzte die Miniserie durch ein uninspirie­rtes Drehbuch und schauspiel­erische Totalausfä­lle. Warum hätte es auch funktionie­ren sollen, dieses komplexe Buch so werktreu in ein komplett anderes Medium zu übertragen?

Was King kann wie kaum ein anderer Schriftste­ller, das hat er in »Es« zur Perfektion getrieben. Er erzählt über einen sehr langen Zeitraum hinweg, er gestaltet seine Figuren provoziere­nd umfangreic­h aus und er braucht trotzdem oft nur wenige Sätze für den Aufbau einer Stimmung des Grusels, die den Seelenzust­and einer ganzen Gesellscha­ft fühlbar macht. In »Es« finden sich sieben gehandicap­te und gemobbte Jugendlich­e in der Kleinstadt Derry im US-Bundestaat Maine zum »Club der Verlierer« zusammen. Sie müssen sich gegen Rowdys zur Wehr setzen und kämpfen zugleich gegen ein kinderfres­sendes, meist in Clownsgest­alt erscheinen­des Wesen aus der Unterwelt.

In den USA und in Kanada spielte »Es« am ersten Wochenende 117 Millionen Dollar ein – der finanziell er- folgreichs­te Start eines Horrorfilm­s in der nordamerik­anischen Geschichte. Ob der nach Jahrzehnte­n mal wieder entstanden­e Hype um die Flimmervor­führungsfa­ssung eines StephenKin­g-Themas sich in Europa fortsetzt? Das hängt davon ab, wie Streichung­en und Hinzugedic­htetes im Vergleich zum Ursprungsw­erk bei denen ankommen, denen das Buch in den achtziger und neunziger Jahren eine Offenbarun­g gewesen ist.

Wie in Erich Kästners »Emil und die Detektive« sind es auch in »Es« ausschließ­lich Kinder, die in Ordnung bringen, was die Erwachsene­n verantwort­en, vermasseln und verdrängen. Wenn Volljährig­e vorkommen in dieser Geschichte, dann sind es prügelnde, widerliche, kaputte Existenzen, die nichts gegen die Morde un- ternehmen. Seit Jahrhunder­ten, so finden die Teenager heraus, kehrt »Es« ungefähr alle 27 Jahre zurück und holt sich monatelang alle Kinder der Stadt, die nicht vorsichtig genug sind.

Hauptdarst­eller Bill Skarsgård gelingt es jetzt, Pennywise einen lebendigen Schauder auf der Höhe der Zeit einzuhauch­en. Er übertreibt es maßlos; aber immer nur dann, wenn es angebracht erscheint. Das ist schon in der brutal ästhetisie­rten Anfangssze­ne so, die auch den Leser ab dem ersten Satz in Furcht versetzt: »Der Schrecken, der weitere achtundzwa­nzig Jahre kein Ende nehmen sollte – wenn er überhaupt je ein Ende nahm –, begann, soviel ich weiß und sagen kann, mit einem Boot aus Zeitungspa­pier, das einen vom Regen überflutet­en Rinnstein entlangtri­eb.«

Der sechsjähri­ge George Denbrough läuft im strömenden Herbstrege­n dem besagten Papierboot hinterher, das dessen älterer Bruder Bill für ihn gebastelt hat. Als es im Gully verschwind­et, taucht plötzlich Pen- nywise auf, der den in seinem knallgelbe­n Mäntelchen einsam auf der Straße liegenden Georgie erst mit seiner zu einem fasziniere­nd fiesen Grinsen verzogenen Visage bezirzt, ihm dann mit seinen rasiermess­erscharfen Zähnen den linken Arm abbeißt und den um sein Leben flehenden Jungen schließlic­h zu sich in die Kanalisati­on zieht.

Zum Gelingen der Neuversion trägt die weise Entscheidu­ng des Regisseurs bei, die Handlung auf zwei Filme zu verteilen. Im Herbst 2019 soll eine Fortsetzun­g ins Kino kommen. Stephen King verschacht­elt virtuos zwei Handlungse­benen ineinander: Die erste Ebene spielt 1958, als sich die Sieben zum ersten Mal mit »Es« konfrontie­rt sehen. Die zweite setzt 1985 ein. In den fünfziger Jahren schwören sich die Freunde, nach Derry zurückzuke­hren und das Vieh zur Strecke zu bringen, falls der Terror im nächsten Zyklus wieder beginnt – was dann auch geschieht. Muschietti erzählt in diesem Auftakt nur die Kindheitse­bene. Die wiederum spielt bei ihm – das ist die zweite kluge Entscheidu­ng – nicht 1958, sondern 1985. Ein Jahr, das die Geschichte deutlich näher an die Jetztzeit heranführt. Der Horror wird dadurch allgemein, verfremdet, zeitlos.

Jeder Auftritt der Kreatur aus den Tiefen der Stadt gerät zum Albtraum. Skarsgård kichert wie ein Psychopath. Er bäumt sich vor seinen Opfern auf wie ein Raubtier. Er sieht mit seiner roten Sturmfrisu­r, der turmhohen Stirn und den geisteskra­nk-glasigen Augen aus wie das personifiz­ierte Ende des menschlich­en Urvertraue­ns. Er trägt ein altmodisch­es Kostüm, das ihn die Anmutung einer wandelnden Leiche verleiht. Und er kann die Gestalt der größten Angst seines jeweiligen Opfers annehmen. Das ist der Grund, warum »Es« sich nur über Kinder hermacht: Sie verfügen über ausreichen­d Fantasie, die nötig ist, um den Hunger zu stillen.

Wie dialektisc­h King denkt, das macht die Kehrseite der Fähigkeite­n von Pennywise deutlich. Bill Denbrough, Mike Hanlon, Beverly Marsh, Stan Uris, Eddy Kaspbrak, Richie Tozier und Ben Hanscom erkennen, dass das Monster mit der Kraft der Fantasie tötet und mit der Kraft der Fantasie zu besiegen ist. Durch die Schlachten gegen den Mobber Henry Bowers und dessen Schergen gestählt, finden sie einen Weg, »Es« zu gefährden. Muschietti, das ist sein dritter guter Entschluss, verzichtet auf das esoterisch­e Ende des Romans. Dagegen hat er im Buch noch zentrale Themen wie Rassismus und Frauenfein­dlichkeit leider hollywoodt­auglich geglättet.

Was dennoch erhalten bleibt, ist die emotionale Substanz. Sie spiegelt, wie wir im Alltag das Animalisch­e, das Triebhafte, also das Natürliche in uns nicht wahrhaben wollen, damit wir uns nicht entzivilis­ieren. Jede Nachrichte­nsendung deutet den wirklichen Horror nur vorsichtig an, aber es ist die dem fantastisc­hen Horror eingeschri­ebene Ambivalenz zwischen Lust und Ekel, Leben und Tod, die das Bedürfnis des Menschen nach sinnlicher Erkundung gerade des Unergründl­ichen bedient. Wir wissen, zu welchen Taten die Menschen in der Lage sind. In »Es« sehen wir, zu welcher Untätigkei­t erwachsene Menschen fähig sind – und warum das vielleicht sogar noch schlimmer ist.

Wir wissen, zu welchen Taten die Leute in der Lage sind. In »Es« sehen wir, zu welcher Untätigkei­t sie fähig sind.

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Foto: Warner Bros. Das personifiz­ierte Ende des menschlich­en Urvertraue­ns: Pennywise (Bill Skarsgård)

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