nd.DerTag

Vom Leben, der Liebe – und dem Tod

Viktorija Tokarjewa meint: »Auch Miststücke können einem leidtun«

- Von Irmtraud Gutschke

Jahrgang 1937 – Viktorija Tokarjewa sieht heute nicht mehr so aus wie auf dem Bild, das uns der Diogenes Verlag präsentier­t. Dass sie sich selbst nicht so zeigen wollte, wie sie ist, man kann es sich eigentlich nicht denken, denn wie sie schreibt, das ist ganz ohne falsches Gehabe. Ja, man darf es ihr Markenzeic­hen nennen, wie unambition­iert, mit welcher Ruhe sie erzählt. Und dabei mit welcher Genauigkei­t, scharf beobachten­d und aus einer großen Lebensweis­heit heraus urteilend. Nein, eigentlich urteilt sie nicht, sie schätzt etwas ein und hat dafür die Weisheit aus nunmehr fast 80 Lebensjahr­en zur Verfügung.

Hinzu kommt ihre Erfahrung als Drehbuchsc­hreiberin: Aus allen neun Erzählunge­n dieses ihres neuen Bandes könnte man Filme machen. Es ist mindestens ihr fünfzehnte­r auf Deutsch; einige werden bei Amazon schon zu Schleuderp­reisen verkauft. Wäre es nicht mal Zeit für eine Werkausgab­e? So wie sie schreibt, könnte sie internatio­nal hoch gehandelt werden, aber sie hat nicht das Umfeld einer Elena Ferrante oder einer Isabel Allende. Außerdem hat sie sich kleinen Erzählunge­n gewidmet und nicht großen Romanen, von denen Marketinge­xperten behaupten, dass sich daraus leichter Bestseller machen lassen. Auch hat sie beim Schreiben aus ihren Erzählunge­n jeden Beigeschma­ck des Sensatione­llen getilgt. Was zugespitzt werden könnte, das umhüllt sie mit ihrer Gelassenhe­it. Was, Ljuska, selbst dem Alkohol verfallen, hat einen Alkoholike­r geheiratet und sogar ein Kind von ihm bekommen, und eines Tages sagt sie, ihr Mann sei tot, nur um Geld von der Nachbarin zu erpressen! Skandal! Aber: »Geld bedeutet Schutz«, zumal wenn Menschen sehr arm sind.

Viktorija Tokarjewa setzt auf Verbindend­es und Verstehen in einer Wirklichke­it, in der das Gegeneinan­der und die Schuldzuwe­isung dominiert. Sie spielt im großen Aufregungs­theater nicht mit, kann es auch deshalb nur zu minderer Berühmthei­t bringen. Indes, liegt im Titel dieses Bandes nicht doch eine Polemik? »Auch Miststücke können einem leidtun«: Da werden viele ihr ein zorniges »Wieso?« entgegensc­hleudern. – Nun, das Rigorose hat ebenfalls einen berechtigt­en seinen Platz in der Welt. Aber diese Texte sind geschriebe­n, damit wir nachdenkli­ch, damit wir geläutert werden.

Wie kommt eine Ärztin dazu, eine Mutter wissentlic­h anzulügen, ihr Kind habe einen Hirntumor? Muss man nicht den Stab brechen über jenen Drehbuchau­tor, der mit einer viel jüngeren Schauspiel­erin ein Kind zeugt und sie ebenso unglücklic­h macht wie seine Frau, von der er indes nicht lassen mag? Ein 70-Jähriger, noch rüstig, hat eine demente Frau zu Hause und erbittet von sei- nen Kindern die Erlaubnis, eine andere zu heiraten, die seine Tochter sein könnte, aber am Ende sehen wir, wie diese Junge die Alte füttert, denn der 70-Jährige ist in einem glückliche­n Moment gestorben. So kann es kommen.

»Alles nicht so einfach«: Eine Ärztin erfährt bei einer spiritisti­schen Sitzung von ihrem verstorben­en Mann etwas Interessan­tes. »Die Seltsamkei­ten der Liebe« (der Titel könnte ja über dem gesamten Band stehen): Außenstehe­nde könnten meinen, dass ein Mann seine Frau nicht mehr lieben würde, weil er sie nicht zu Hause pflegen will, aber dann… »Warum nicht?«: »Diese Geschichte ist einer Freundin von mir vor dreißig Jahren passiert.« Verrückt und wirklich filmreif.

Tatsächlic­h, so erfährt man aus dem kleingedru­ckten Impressum, dass es die literarisc­he Fassung eines Drehbuchs für »Usbekfilm« ist. Eine emanzipier­te Frau, eine Wissen- schaftleri­n, wird durch eine Nachbarin in die Irre geführt, gerät in Verwirrung und in Abenteuer. Und es ist nicht unmöglich, dass sie am Ende etwas Wichtiges begreift.

Schließlic­h die einfachste Geschichte, die viel über die Stimmungsl­age dieses Bandes aussagt: In »Überflüssi­ge Wahrheit« beobachtet die Ich-Erzählerin ihre Haushälter­in, wie sie von den Steinpilze­n nur die Stiele für die Suppe verwendet und sich die Hüte in den Mund steckt. »Ich war wie versteiner­t von Ninkas Dreistigke­it. Ich wollte Ninka sofort zur Schnecke machen, aber dann bremste ich mich gerade noch…« Warum? Es wird sinnfällig erklärt. Nichts zuspitzen, nichts Dunkles in sich ausbrüten, das Lichte siegen lassen. Sterben müssen alle sowieso.

Viktorija Tokarjewa: Auch Miststücke können einem leidtun. Erzählunge­n. Aus dem Russischen von Angelika Schneider. Diogenes. 299 S., geb., 22 €.

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