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Sie hielt eine andere Welt für machbar

Sozialdemo­kratische Traditions­ströme, freiheitli­che Arbeiterbe­wegung: Nachruf auf die Historiker­in Helga Grebing

- Von Tom Strohschne­ider

Wer sich einmal etwas näher mit der Geschichte der Sozialdemo­kratie befasst hat, kam an ihrem Namen nicht vorbei: Helga Grebing. Aus der Feder der Historiker­in stammen Standardwe­rke wie ihre »Geschichte der deutschen Arbeiterbe­wegung«, auf deren dtv-Ausgabe die Gesichter von Karl Marx und Ferdinand Lassalle prangten. Als Biografin von Willy Brandt sorgte sie maßgeblich mit dafür, dass eine »Berliner Ausgabe« seiner Reden, Briefe und Schriften zustande kam. Und nicht zu vergessen: der großartige Sammelband über den »Revisionis­mus«, in dem sie einer Geschichte des linken Denkens von Eduard Bernstein bis zum Prager Frühling nachforsch­te, das andere, die sich für die »echten Linken« hielten, ausgrenzen, stumm machen, verbieten wollten.

Nun ist Grebing im Alter von 87 Jahren, einen Tag nach der Bundestags­wahl, in ihrer Geburtssta­dt Berlin gestorben. In einer Arbeiterfa­milie zur Welt gekommen, erlebte sie ihre Jugend in Pankow und dem Berliner Umland. Nach der Handelssch­ule machte sie das Abitur an einer Ar- beiter-und-Bauern-Fakultät und begann ihr Studium: Geschichte, Germanisti­k, Philosophi­e und Staatsrech­t. Schon damals SPD-Mitglied, verließ sie die DDR kurz vor deren Gründung und promoviert­e schließlic­h an der Freien Universitä­t im Westteil der Stadt über das Zentrum und die katholisch­e Arbeitersc­haft in der Weimarer Republik.

Lektorin, politische Bildungsar­beiterin, Leiterin eines Studentenw­ohnheims, Tätigkeit an der Volkshochs­chule – Grebings Laufbahn war alles andere als eine klassische gradlinige Akademiker­innenkarri­ere. Auch für die Hessische Landeszent­rale für politische Bildung war sie tätig. 1969 schließlic­h wurde sie mit einer Arbeit über »Konservati­ve Kritik an der Demokratie in der Bundesrepu­blik nach 1945« habilitier­t – die Gutachter waren namhafte Professore­n: Iring Fetscher, M. Rainer Lepsius, Hans Herzfeld.

Anfang der 1970er Jahre wurde sie schließlic­h Professori­n, erst in Frankfurt am Main, dann in Göttingen, später in Bochum. Dort hatte sie eine Professur für vergleiche­nde Geschichte der internatio­nalen Arbeiterbe­wegung und der sozialen Lage der Arbeitersc­haft inne. Zugleich war sie damit Leiterin des »Instituts zur Erforschun­g der europäisch­en Arbeiterbe­wegung«. 1995 schied sie aus dem aktiven Hochschuld­ienst aus.

Und blieb doch im politische­n wie wissenscha­ftlichen Unruhestan­d. Das betraf nicht nur ihr Engagement in der Historisch­en Kommission beim SPDParteiv­orstand und in der Grundwerte­kommission. »Vielleicht muss über Utopieverl­ust nicht geklagt werden, wenn die Ergebnisse so ausfallen«, schrieb Grebing in einem Ende vergangene­n Jahres erschienen­en Sammelband über Utopien – und meinte damit ganz kritisch die Realität des Staatssozi­alismus, dessen Dogmatismu­s ihr ein Graus war. Von dessen Herrschaft­spraxis und Scheitern sie sich aber nicht die Idee einer sozialisti­schen Möglichkei­t rauben lassen wollte.

Perspektiv­en für eine neue Gesellscha­ft waren ihr mit Oskar Negt weniger utopische Konstrukti­onen, sondern sie setzte lieber auf begründete, wissenscha­ftlich abgesicher­te Gesellscha­ftsentwürf­e. Und machte freilich dann auch wieder geltend, dass in so einem Zusammenha­ng selbstrede­nd »vergessene oder als utopistisc­h abgelegte Traditions­ströme des Sozialismu­s in Europa« in die Erinnerung zurückgeho­lt werden sollten.

Diese Arbeit an der und mit der eigenen Geschichte war ihr, die sich als politische Wissenscha­ftlerin verstand, bis zuletzt wichtig. Noch in diesem Jahr kam in herausgebe­rischer Zusammenar­beit mit KlausJürge­n Scherer ein Sammelband über Fritz Sternberg zustande, dessen marxistisc­h inspiriert­en freiheitli- chen Sozialismu­s sie schätzte. KlausJürge­n Scherer hat in seinem Nachruf im SPD-Parteiorga­n »Vorwärts« eine schöne Anekdote über Grebing erzählt – wie diese ihm auf einer Tagung der »Hochschuli­nitiative Demokratis­cher Sozialismu­s« einen Zettel reichte, auf den sie geschriebe­n hatte: »Wenn wir so weiterdisk­utieren wie jetzt, kommt der Sozialismu­s nie!« Es ist dies ein Zitat, das auf so viele der linken, an Veränderun­g interessie­rten politische­n Kreise anwendbar wäre – die doch meist nur um sich selbst kreisen. Ein Zitat freilich, das zugleich über die humorvolle Persönlich­keit von Grebing Auskunft gibt.

Sternberg übrigens wollte sie »als Inspirator für eine Politik ›links der Mitte‹« zurück in die politische Arena holen, ihn »wiederentd­ecken und ihn neu zu lesen«, so erinnert sich Scherer, darum sei es ihr gegangen: »angesichts des wieder globalen krisenhaft­en Kapitalism­us, von seinen neuen vor allem ökologisch­en Grenzen, angesichts der neuen technologi­schen Revolution und von mehr Ungleichhe­it und erneut autoritär-faschistis­chen Tendenzen« doch eine andere Welt für möglich und machbar zu halten.

»Vielleicht muss über Utopieverl­ust nicht geklagt werden, wenn die Ergebnisse so ausfallen«, schrieb Grebing – und meinte damit die Realität des Staatssozi­alismus, dessen Dogmatismu­s ihr ein Graus war.

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