Madrid schafft Independentistas en masse
In Katalonien wächst vor dem Unabhängigkeitsreferendum der Ärger über die Politik der Zentralregierung
Jeden Abend um Punkt 22 Uhr beginnt das große Scheppern. In Barcelona, Vic und Tarragona stehen Menschen an den Fenstern, schlagen Topfdeckel gegeneinander, trommeln mit Suppenkellen oder Käsereiben auf Balkongitter. Nachbarn improvisieren rhythmische Duette, Freunde versuchen sich an Lautstärke zu übertrumpfen. Manchmal dröhnt von irgendwo – als Protest gegen die Protestierer – Manolo Escobars »Que viva España« aus einem Lautsprecher. Die Casserolada, die abendliche Kochtopf-Kakophonie, ist dieser Tage ein präziser akustischer Stimmungsmesser. Mittwoch vergangener Woche, als die spanische Guardia Civil Privatwohnungen und Büros der katalanischen Regionalregierung Generalitat durchsuchte und 14 hochrangige Beamte in Untersuchungshaft nahm, war der Lärm ohrenbetäubend. Dann nahm die Intensität ab. Jetzt, wenige Tage vor dem geplanten Unabhängigkeitsreferendum, schwillt sie wieder an.
Längst geht es nicht mehr allein um die Frage Ja oder Nein. Längst geht es auch nicht mehr um die Frage Abstimmen oder nicht. Selbst überzeugte Unabhängigkeitsbefürworter glauben nicht mehr daran, dass unter den gegebenen Umständen eine auch nur annähernd reguläre Wahl stattfinden kann. Die Proteste richten sich in erster Linie gegen Mariano Rajoys konservative Volkspartei (PP). Madrid hat den gesamten spanischen Justizapparat gegen das Referendum in Stellung gebracht: Über 700 Bürgermeister werden vor Gericht zitiert, weil sie der Befragung ihre Unterstützung zugesagt haben. Die Regierung hat Tausende Polizisten in die renitente Region beordert. Nicht nur den Organisatoren des Referendums, auch den Organisatoren der Proteste drohen Haftstrafen – wegen Anstiftung zum Aufruhr. Dabei waren die Proteste bisher friedlich. »Eine völlige Überreaktion«, sagt Oriol Bartomeus. Der Politologe unterrichtet an der Autonomen Universität Barcelona und gehört zu denjenigen, die sich bisher um »Äquidistanz« bemühten. Jetzt registriert er, wie die Stimmung schwankt. Diejenigen, die bisher weder dem von der katalanischen Regionalregierung angesetzten, einseitigen Unabhängigkeitsreferendum etwas abgewinnen konnten, noch mit den Verfechtern eines strikten Neins jeglichen Selbstständigkeitsbestrebens sympathisierten, näherten sich nun den Independentistas. Nicht, weil sie den Traum von einer unabhängigen katalanischen Republik teilten, sondern aus einem demokratischen Impuls.
»Die spanischen Institutionen haben sich durch ihr harsches Vorgehen in meinen Augen völlig delegitimiert«, sagt etwa José-Miguel Sanjuan, Projektmanager bei einem Forschungsinstitut. »Ich wollte eigentlich gar nicht teilnehmen, jetzt fühle ich mich moralisch verpflichtet, wählen zu gehen – um zu zeigen, dass dieses Land einen politischen Neuanfang braucht.« Auf 1,5 bis zwei Millionen schätzen Politologen dieses Segment. Madrid schafft Unabhängigkeitsbefürworter en masse. Hat Rajoy die Situation falsch eingeschätzt oder sich bewusst verkalkuliert? Bartomeus lacht kurz und trocken auf. Skandalös ungeschickt sei das Vorgehen der Zentralregierung jedenfalls.
Wer den Humor noch nicht verloren hat, kann tatsächlich seine helle Freude an den letzten Direktiven aus Madrid haben. Als Unterkunft für die Beamten der Policia Nacional und der Guardia Civil hat die spanische Regierung Fähren gechartert, bemalt ausgerechnet mit Figuren der Trickfilm-Serie Looney Tunes. Die Polizisten beschweren sich übers karge Frühstück und die morgendlichen Protestkonzerte der Werftarbeiter, die sich von Anfang an weigerten, die Polizeischiffe abzufertigen und ernten dazu noch kübelweise Spott für ihre infantile Residenz. Tweety, der kleine, gelbe Vogel, der in der Serie immer wieder dem Kater Sylvester entwischt, ist zum Symbol der ProReferendums-Bewegung geworden und prangt auf Plakaten und Flyern. Im Cyber-Krieg trickst die katalanische Regionalregierung Madrid immer wieder aus. Die Staatsanwaltschaft lässt die Webseiten mit Infor-
Joaquim Forn, Innenminister Katalonien
mationen zum Referendum schließen. Wenige Stunden später tauchen sie unter einer neuen Domain auf, unter so einfallsreichen Namen wie www.marianorajoy.cat oder www.guardiacivil.sexy.
Man könnte darüber herzhaft lachen, wenn es nicht so tragisch wäre. Und so gefährlich: 5300 Polizisten hat Madrid nach Katalonien beordert, darunter allein 2000 der insgesamt 2700 Spezialkräfte zur Bekämpfung von Unruhen. Hunderte spanische Nationalisten verabschiedeten die Einsatzkräfte als »Retter der Verfassung« mit »Viva Espana« und »A por ellos, oé« (»Auf sie, mit Gebrüll«)-Rufen. Als wäre das nicht skandalös genug, postet Rajoys konservative Volkspartei PP unter dem Hashtag »Hispanophobia« Videos mit überwiegend aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten katalanischer Politiker, die deren tiefen Hass gegen Spanien beweisen sollen. Das politische Klima ist vergiftet, auf Jahre. Für den katalanischen Innenminister Joaquim Forn ist die Entsendung der Polizisten schlicht eine gezielte Provokation: »Sie möchten gezielt Tumulte herbeiführen. Das ist das, was sie wollen und das ist die Absicht dieser Polizisten.«
Was am Sonntag passieren wird, wagt keiner zu prognostizieren. Der Oberste Katalanische Gerichtshof hat alle Polizeikörper, auch die katalanische Landespolizei Mossos, angeordnet, die Öffnung der Wahllokale zu verhindern und am Sonntag bereits geöffnete zu schließen. In den Whatsapp-Gruppen der Colles de Castellers, den Vereinen der katalanischen Menschenburgbauer, auf den Assembleas der CUP, in den Foyers der besetzten Universitäten und in den rasch gegründeten lokalen »Komitees zur Verteidigung des Referendums« diskutiert man Pläne zur frühzeitigen Besetzung der Wahllokale. Vielleicht am Samstag früh, vielleicht am Freitag, vielleicht heute Nacht, will man mit Schlafsäcken und Proviant dort campieren und ausharren. Wenn die Staatsgewalt nicht zuvorkommt. Ein Katz- und Mausspiel, bei dem gewinnt, wer bis zum Schluss die Nerven behält. Und bei dem ein unvorsichtiger Drängler, ein gereizter Polizist ausreichen könnte, um die Stimmung umschlagen zu lassen.
Sofia Leboutet, eine Krankenschwester aus dem Viertel Poblenou, sitzt auf einer Bank vor einer Schule in Poblenou, sieht nachdenklich ihrer sechsjährigen Tochter zu, die auf einem Klettergerüst turnt. »Bisher habe ich sie zu jeder Wahl, jeder Abstimmung mitgenommen, aber diesmal habe ich Angst, dass irgendetwas passieren könnte.« Dann schießen ihr Tränen in die Augen. »Die spanische Regierung hat soviel Geschirr zertrümmert und wir werden mit den Scherben leben müssen.« Ein Teil ihrer Familie stammt aus Valencia, die Gespräche mit ihren Verwandten enden immer häufiger im Streit.
Nicht nur zwischen Katalonien und dem restlichen Spanien wird der Graben tiefer, auch innerhalb der katalanischen Gesellschaft werden Risse sichtbar. Der Streit ums Referendum dominiert die Gespräche am Wohnzimmertisch, am Tresen der Frühstücksbar, in den Kommentarspalten der Zeitungen: Der »Faschismus«Vorwurf ist schnell bei der Hand und kann beide Seiten treffen: Diejenigen, die rechtliche oder politische Zweifel an einem, in erster Linie als Instrument zur politischen Mobilisierung genutzten Referendum haben (»Franco hätte auch nicht abstimmen lassen – wie du«) ebenso wie diejenigen, die auf das Selbstbestimmungsrecht der katalanischen Nation pochen und auf Demonstrationen Fahnen schwenken (»Ihr seid Nationalisten – wie die Nazis«). Und manchmal fliegt ein Stein. Das Fenster des barcelonesischen Büros der PSC, des katalanischen Ablegers der sozialdemokratischen PSOE, hat seit vergangener Woche einen tiefen Riss. Ein Mittfünfziger mit Bart erzählt, wie er nach dem Wurf von einem wütenden jungen Mann mit umgeworfener Estelada einen Faustschlag ins Gesicht erhielt. Seinen Namen will er nicht nennen. Er hat fünf Jahre im Baskenland gelebt, stand als Kandidat der Sozialisten unter Polizeischutz. »Manchmal habe ich Angst, dass es hier bald genauso unerträglich wird wie im Baskenland.« Nein, natürlich sei die Gewalt nicht mit dem damaligen Konflikt um die baskische Untergrundorganisation ETA zu vergleichen, präzisiert er, aber die Grauzonen verschwänden immer mehr: »Entweder du bist dafür – oder dagegen. Und wenn du dagegen bist, ist es fast besser, den Mund zu halten.« Er dreht sich eine Zigarette, blickt nachdenklich in den Abendhimmel. Bald wird es wieder scheppern auf den Balkonen.
»Sie möchten gezielt Tumulte herbeiführen. Das ist das, was sie wollen und das ist die Absicht dieser Polizisten.«