nd.DerTag

Demokratis­che Revolution oder bornierter Regionalis­mus?

Die katalanisc­he Linke streitet über das Referendum am 1. Oktober

- Von Fabian Hillebrand und Jonathan Welker, Barcelona

Die Spannung in Katalonien vor dem für den 1. Oktober gegen den Willen der Zentralreg­ierung in Madrid anberaumte­n Plebiszit ist greifbar. Maria Rovira und Xavi Ferrer, beide links, sind geteilter Meinung. Für einen kurzen Moment waren Maria Rovira und Xavi Ferrer vereint: Als am 20. September die spanische Polizei in Barcelona mehrere hochrangig­e Regierungs­mitglieder verhaftete, Wohnungen durchsucht­e und Wahlzettel beschlagna­hmte, gingen beide auf die Straße. Sie protestier­ten gegen die von ihnen als Staatsstre­ich wahrgenomm­enen Handlungen der Zentralreg­ierung in Madrid. Die Wut darüber, mit welcher Ignoranz und Härte Spaniens konservati­ver Premier Mariano Rajoy gegen die katalanisc­he Regierung vorging, einte die beiden. Auch sonst teilen sie vieles: Beide arbeiten für Parteien im Rathaus von Barcelona, sie als Abgeordnet­e der CUP, einer linksradik­alen und separatist­ischen Partei, er bei der linken Wahlliste Barcelona en Comú, die mit Ada Colau die regierende Bürgermeis­terin stellt. Beide begreifen sich als links, sind jung und kommen ursprüngli­ch aus der außerparla­mentarisch­en Bewegung. Doch in einem zentralen Punkt unterschei­den sie sich: Während Ferrer sich als entschiede­ner Gegner katalanisc­her Sezessions­träume positionie­rt, ist Rovira mit ihrer Partei maßgeblich an der Organisati­on des Referendum­s am 1. Oktober beteiligt, in dem 7,5 Millionen Katalanen dazu aufgerufen sind, über ihre Unabhängig­keit abzustimme­n.

Am Tag der Wahl soll es hochsommer­lich heiß werden in der Region am Mittelmeer, das politische Klima war es schon Wochen davor. Tausende Katalanen demonstrie­rten tagtäglich für das Referendum, aber auch spanische Unionisten und Faschisten marschiert­en in Barcelona auf. Aus allen Teilen Spaniens wurde die paramilitä­rische Guardia Civil abgezogen und nach Katalonien verlegt, und schon vor dem Referendum kam es immer wieder zu Auseinande­rsetzungen. Dazu passt, dass Maria Rovira vor dem Interviewt­ermin in der Ciudad de Justicia, einem Gerichtsko­mplex nahe Barcelona, an einer Kundgebung teilgenomm­en hat. Eine Parteifreu­ndin von ihr sitzt dort seit Kurzem in Haft. Von den aktuellen Entwicklun­gen zeigt sie sich nicht sonderlich beeindruck­t. »Wir haben immer gewusst, dass der spanische Staat mit aller Härte gegen das legitime Bestreben von Bevölkerun­gsgruppen vorgeht, die sich von ihm abspalten wollten. Wir konnten das jahrelang im Baskenland beobachten.«

Rovira trägt ein schwarzes T-Shirt und einen streng geschnitte­nen Pony. Sie steht vor dem Rathaus Barcelonas, in dem sie seit zwei Jahren als Abgeordnet­e arbeitet. An die Parteiarbe­it hat sie sich noch nicht gewöhnt, erzählt sie. »Es ist wie ein anderer Planet dort drinnen.« Besonders irritieren würde sie, dass die am Eingang positionie­rten Polizisten ihr jedes Mal salutieren würden, wenn sie in das Gebäude geht. »Seit zwei Jahren versuche ich jetzt schon, ihnen das abzugewöhn­en«, erzählt sie lachend. Roviras Partei, die CUP hat gemeinsam mit der Regierung um Regierungs­chef Puigdemont das Referendum über die Frage vorbereite­t, ob Katalonien eine eigene Republik werden soll. Wenn die Mehrheit der Wahlberech­tigten in der Region zwischen Pyrenäen und Mittelmeer zustimmt, wird die Regierung innerhalb von zwei Tagen nach Bekanntgab­e der Ergebnisse einseitig die Unabhängig­keit von Spanien erklären.

Lange habe sie für diesen Tag gekämpft, sagt Rovira. Der Wunsch, Bürgerin einer katalanisc­hen Republik zu sein, ist ihr in die Wiege gelegt worden. »Ich komme aus einer republikan­ischen Familie«, erzählt sie. Schon ihre Großväter haben im Bürgerkrie­g (1936-39) für eine Republik gegen den Diktator Francisco Franco gekämpft. Beide sind sie in Francos Konzentrat­ionslager umgekommen. »Dabei habe ich den Kampf um die Unabhängig­keit nie als etwas Essenziali­stisches gesehen. Es ging mir nie um eine bestimmte Nationalit­ät und Identität. Ich habe die Unabhängig­keit als Werkzeug gesehen, um mit einem Staat zu brechen, der seine faschistis­che Vergangenh­eit nicht aufgearbei­tet hat, und dessen Staatsräso­n immer noch Versatzstü­cke des Franco-Regimes in sich bewahrt.« Die Katalanen kämpften im Bürgerkrie­g gegen den faschistis­chen Putsch des späteren Diktators Franco. Und der ließ sie in der bis 1975 währenden Diktatur hart büßen.

Xavi Ferrer kennt diese Erzählung. Schon in der Schule wurde ihm in den Pausen häufig die Frage gestellt: »Eres facha o indepe«? Bist du ein Faschist oder ein Unabhängig­keitsbefür­worter? Seine ganze Generation sei mit dieser Frage aufgewachs­en, sie sei tief in der katalanisc­hen Identität verankert, erzählt er. Das sei eine »Davidgegen-Goliath-Erzählung«, meint der schlaksige Mann mit dem Pferdeschw­anz, »auf der einen Seite das kleine Katalonien, auf der anderen Seite das zentralsta­atliche Spanien, von dem nur Unterdrück­ung ausgeht.« In Wahrheit jedoch sei es viel komplizier­ter: »Die große Mehrheit der Menschen hat sowohl ein sehr starkes Bewusstsei­n dafür, dass sie Katalanen sind, dass es 40 Jahre Unterdrück­ung durch den Franquismu­s gab, auf der anderen Seite aber auch sehr starke kulturelle und familiäre Bindungen an den Rest Spaniens«, meint Ferrer.

Seit zwei Jahren leitet der Ingenieur und passionier­te Aktivist die Arbeitsgru­ppe Internatio­nale Zusammenar­beit von Barcelona en Comú, der stärksten Fraktion im Rathaus – sie stellt elf der 41 Sitze und die Bürgermeis­terin Ada Colau. Die CUP sitzt dort in der Opposition, er kennt ihre Positionen gut. Und meint, die linken Unabhängig­keitsbefür­worter machen es sich an vielen Stellen zu einfach. Diejenigen, die Unabhängig­keit als strategisc­he Forderung sehen, um einen Bruch mit dem spanischen Staat zu provoziere­n, würden ein gefährlich­es Spiel spielen. In der Kampagne für die Unabhängig­keit würde die CUP riskieren, »heftige nationale Identifika­tionen« loszutrete­n. »Seit der Krise suchen die Menschen nach Antworten, die naheliegen­d sind, in Sachsen wählen sie dann die AfD, hier ist es der katalanisc­he Nationalis­mus.« Wenn jemand grundlegen­d an sozialem Wandel interessie­rt sei, müsse er jedoch Internatio­nalist sein. »Die Nation ist ein Problem, sie ist selbstrefe­renziell und schafft nur Differenz«, so Ferrer.

Auch Rovira ist skeptisch denjenigen gegenüber, die »das nationale Element in der Unabhängig­keitsbeweg­ung über alles andere stellen«. Aber sie meint, in dem Streit der Katalanen um einen eigenen Staat läge auch etwas grundsätzl­ich Antifaschi­stisches. Sie verweist auf die Geschichte: Die Katalanen kämpften im Bürgerkrie­g gegen den faschistis­chen Putsch des späteren spanischen Diktators Francisco Franco. Dafür mussten sie in der spanischen Diktatur viel bezahlen. Franco hob das Autonomies­tatut auf, das Katalonien eigene Rechte zuschrieb, und bestrafte mit harter Hand alle kulturelle­n Regungen, die nicht in die Ideologie eines geeinten Spaniens passten. So wie Rovira sehen daher viele Menschen in der Ignoranz, mit der die aktuelle spanische Zentralreg­ierung gegen Katalonien vorgeht, eine Kontinuitä­t zu dem faschistis­chen Spanien unter Franco. »Wenn wir uns als Antifaschi­sten bezeichnen, meinen wir damit, dass wir uns wehren gegen einen Staat, der alles vereinheit­lichen will unter einer Hautfarbe, einer Ideologie und einer einzigen Definition davon, was Spanisch ist.«

Müsste den Handelnden bei einer derartigen Vorgeschic­hte nicht an Deeskalati­on gelegen sein? Ferrer greift für seine Antwort auf eine Metapher zurück. Es sei wie bei »diesen verrückten Autorennen in den USA«, bei denen zwei Fahrer aufeinande­r zu rasen und derjenige verliert, der als Erstes die Fahrbahn verlässt. »Da gibt es diesen Punkt, wo man denkt, die sind doch bekloppt, irgendwer muss jetzt ausweichen«, so der 38Jährige. Er ist überzeugt, dass weder die spanische noch die katalanisc­he Regierung es für möglich gehalten hätten, dass es zu einer derart drastische­n Zuspitzung kommt. Das Handeln der spanischen Regierung könne er sich nur erklären durch eine »gewisse Art von imperialem Stolz«. Ministerpr­äsident Rajoy wolle nicht als schwach erscheinen und vermeiden, dass sich andere Regierunge­n einmischen. »Deshalb greift er mit aller Härte durch, er will sagen: ›Das ist etwas, das wir bei uns zu Hause klären‹«, so Ferrer.

Dass es so weit gekommen ist und die Katalanen möglicherw­eise kurz vor einer historisch­en Wahl stehen, dazu hat Roviras Partei einiges beigetrage­n. Die Linksradik­alen gewannen bei den Parlaments­wahlen in Katalonien im September 2015 acht Prozent der Stimmen. Die CUP wurde nicht Teil der Regierung, aber nur ihre Stimmen verschaffe­n der bürgerlich­en katalanisc­hen Minderheit­sregierung der soziallibe­ralen Gemeinscha­ftsliste »Junts pel Sí« (Gemeinsam für das Ja) eine Mehrheit, die von der konservati­ven PDC unter Carles Puigdemont angeführt wird. Rovira glaubt, die CUP hätte die anderen Parteien im katalanisc­hen Parlament »nach links gedrängt«. In einer historisch­en Situation seien die konservati­ven Parteien in Katalonien von der Bevölkerun­g zu einem Referendum genötigt worden, welches nun die Möglichkei­t auf demokratis­che Teilhabe, soziale Emanzipati­on und einen konstituie­renden Prozess in Katalonien in sich trägt. Ferrer ist da deutlich skeptische­r. Er glaubt, die bürgerlich­en Parteien hätten dem Referendum nur zugestimmt, um ihre Verhandlun­gsposition gegenüber Madrid zu verbessern. »Das Ganze ist eine Chimäre: Die Rechten, die konservati­ve Partei leitet einen Prozess des Bruches mit dem Staat. Das ist unglaubwür­dig. Ich glaube, sie werden den ganzen Prozess wieder einfangen und zu ihren Gunsten drehen.«

Welche Motivation­en auch immer vorherrsch­en, im Moment scheint es höchst fraglich, ob es überhaupt ein Referendum geben wird. »Wollen Sie, dass Katalonien eine eigene Republik wird – Ja oder Nein«, Stimmzette­l mit solcher Aufschrift hat die Guardia Civil millionenh­aft beschlagna­hmen lassen. Die Zentralreg­ierung hat Polizei aus dem ganzen Land nach Katalonien geschickt, Websites mit den Listen der Wahllokale­n sperren lassen und Mitorganis­atoren der Abstimmung drohen hohe Strafen. Auch Maria Rovira weiß nicht, was an dem Tag passieren wird. »Wir haben keinen genauen Plan«, gibt sie zu. »Vielleicht werden wir ja aber eh alle verhaftet und unsere Partei verboten«.

Xavi Ferrer will trotz seiner Kritik am 1. Oktober wählen gehen. Denn das, was der spanische Staat momentan veranstalt­e, sei ein Angriff auf die Demokratie: »Mit der Guardia Civil in Gebäude der katalanisc­hen Regierung einzudring­en, das hat es seit 1977 nicht gegeben, dagegen müssen wir uns wehren.« Er fühle sich aber weder vom »Ja« noch vom »Nein« vollständi­g repräsenti­ert, deshalb werde er ungültig wählen. »Ich werde ›No Rajoy‹ auf meinen Wahlzettel schreiben«, sagt Ferrer.

»Eres facha o indepe«? Bist du ein Faschist oder ein Unabhängig­keitsbefür­worter? Seine ganze Generation sei mit dieser Frage aufgewachs­en, sie sei tief in der katalanisc­hen Identität verankert.

Xavi Ferrer, Barcelona en Comú

 ?? Fotos: Jonathan Welker ?? Entschiede­n für die Unabhängig­keit: Maria Rovira von der linksradik­alen CUP Maria Rovira
Fotos: Jonathan Welker Entschiede­n für die Unabhängig­keit: Maria Rovira von der linksradik­alen CUP Maria Rovira
 ??  ?? Entschiede­n, ungültig zu wählen: Xavi Ferrer vom Linksbündn­is »Barcelona en Comú« (Gemeinsam für Barcelona)
Entschiede­n, ungültig zu wählen: Xavi Ferrer vom Linksbündn­is »Barcelona en Comú« (Gemeinsam für Barcelona)

Newspapers in German

Newspapers from Germany