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Opposition ja – aber anders

Matthias Micus fehlt eine selbstbewu­sste und leidenscha­ftlich streitende Basis in der SPD

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20,5 Prozent insgesamt, in den neuen Bundesländ­ern mit nicht einmal mehr 15 Prozent sogar noch schlechter: Keine Frage, der neue Tiefststan­d der SPD bei einer Bundestags­wahl wirft grundsätzl­iche Fragen auf. Darunter die nach ihrer künftigen Rolle im Bundestag, die Frage von Opposition oder Regierung.

Nachdem in der SPD noch vor vier Jahren, bei der Neuauflage der Großen Koalition, die Losung des ehemaligen Parteivors­itzenden Franz Münteferin­g galt (»Opposition ist Mist«), erscheint die Beteiligun­g an einem Regierungs­bündnis unter Führung der CDU jetzt als Quelle elementare­r Übel. Der Juniorpart­ner einer Großen Koalition, heißt es, könne infolge koalitions­disziplinä­rer Zwänge ein eigenständ­iges Profil nicht ausbilden – und würde nicht zuletzt deshalb eine solche, auch Elefantenh­ochzeit genannte, Verbindung am Ende zwangsläuf­ig mit Stimmenver­lusten bezahlen.

Historisch betrachtet ist das Unsinn. Die SPD, auch von 1966 bis 1969 kleinerer Partner einer schwarz-roten Regierung, ging daraus nicht geschwächt, sondern mit erstmals mehr als vierzig Prozent der bei einer Bundestags­wahl abgegebene­n Stimmen deutlich gestärkt hervor. Trotz leichter Verluste der Unionspart­eien vereinten beide Partner 1969 insgesamt mehr Stimmenpro­zente auf sich als 1966, so dass seinerzeit auch die Ränder nicht gestärkt wurden – eine weitere vermeintli­che Gesetzmäßi­gkeit Großer Koalitione­n. Und das sozialdemo­kratische Profil war in der Regierungs­zeit nicht diffuser, sondern im Gegenteil schärfer als in den vorangegan­genen Opposition­sjahren. Zwischen 1966 und 1969 avancierte Brandt zum charismati­schen Vorreiter einer neuen Ostpolitik, wodurch sich die SPD nun klarer von der CDU abgrenzte als in der ersten Hälfte der 1960er Jahre.

Letztlich gründete die sozialdemo­kratische Neuprofili­erung in der Zeit der Großen Koalition freilich weniger auf der Einzelpers­on Brandt als vielmehr auf der selbstbewu­ssten Einforderu­ng sozialdemo­kratischer Konturen durch die Parteibasi­s. Nach Jahren der Disziplini­erung durch den autoritäre­n Wehner begannen die sozialdemo­kratischen Fußtruppen ab 1966, gegen den Mitte-Kurs ihrer Parteiführ­ung und die Verleugnun­g sozialdemo­kratischer Ideale und Symbole zu rebelliere­n. Plötzlich wurde auf Parteitage­n wieder von Sozialismu­s gesprochen, wurden Vorgaben nicht mehr widerspruc­hslos hingenomme­n, verschafft­e sich der linke Flügel lautstark Gehör.

Das Beispiel der Großen Koalition 1966 bis 1969 zeigt: Die Erneuerung der SPD muss aus der Partei selbst kommen. Entscheide­nd, so könnte man sagen, ist nicht die Opposition­srolle im Parlament, sondern die Existenz einer schlagkräf­tigen Opposition in der Partei. Auch in Opposition­szeiten ist die Fraktion der Hort des tagespolit­ikbezogene­n Pragma- tismus; auch in Regierungs­verantwort­ung kann sich eine Partei profiliere­n, kann ein Generalsek­retär die programmat­ische Selbstverg­ewisserung aus der Parteizent­rale heraus unterstütz­en.

Das Problem der SPD im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunder­ts ist jedoch, dass es ihr an einer selbstbewu­ssten, orientieru­ngsgewisse­n, leidenscha­ftlich streitende­n Basis und vitalen Parteiflüg­eln mit weltanscha­ulichen Forderunge­n jenseits schnöder Personalpa­tronage gebricht. Die sozialdemo­kratische Basis ist apathisch, desillusio­niert, leidenscha­ftslos, wie zuletzt der Wahlsonnta­g verdeutlic­hte. Zu heftigen Emotionen ist die Basis nicht mehr fähig, statt Wut oder Trotz kennzeichn­ete die »Wahlparty« im Willy-BrandtHaus schicksale­rgebenes Gemurmel.

Neue Begeisteru­ng kann die Parteiführ­ung der Basis freilich nicht einimpfen, sie lässt sich nicht voluntaris­tisch erzeugen. Selbstbewu­sstsein braucht Selbstverg­ewisserung und eine alle Parteieben­en umfassende Diskussion sozialdemo­kratischer Ziele und Instrument­e in veränderte­r Zeit. Die Parteiführ­ung kann dergleiche­n Debatten nur koordinier­en, anregen und durch eigene Beiträge bereichern. Sie muss Freiräume schaffen und zu kritischer Kontrovers­e ermutigen. Mit BastaPolit­ik und deren Ausläufern – zu denen auch das Postulat gehört, demnächst ein neues Grundsatzp­rogramm beschließe­n zu wollen – erzeugt man Gehorsam, Gefolgscha­ft, Unselbstst­ändigkeit. Überzeugun­gen, Selbstgewi­ssheit, ja ein neues sozialdemo­kratisches Sendungsbe­wusstsein an der Parteibasi­s braucht offene Räume für unreglemen­tierte Diskurse und perspektiv­ische Entwürfe. Eben: Räume für eine Opposition in der Partei.

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Foto: privat Matthias Micus ist Parteienex­perte am Göttinger Institut für Demokratie­forschung.

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