nd.DerTag

Aufräumen mit dem sowjetisch­en Erbe

In der Ukraine bleibt das Gedenken an die jüdischen Opfer der Nazis ein Streitpunk­t, auch mit Blick auf Russland

- Von Mathis Eckelmann

Vor 76 Jahren ermordeten deutsche Truppen und ihre Helfer in einer Schlucht in der Nähe Kiews mehr als 30 000 Juden. Das Gedenken an die Opfer steht noch immer im Spannungsf­eld aktueller Konflikte. Im Jahr 1961 notierte der ukrainisch­e Dichter Jewgeni Jewtuschen­ko die Zeilen »Über Babyn Jar, da steht keinerlei Denkmal …«. Damals erinnerte nichts an jene, die in der Schlucht nahe der ukrainisch­en Hauptstadt zwanzig Jahre zuvor den Tod gefunden hatten. Kurz nachdem die Wehrmacht 1941 in Kiew einmarschi­ert war, wurde die Auslöschun­g der in der Stadt verblieben­en jüdischen Bevölkerun­g beschlosse­n. Am 29. und 30. September erschossen die Nazis und ihre ukrainisch­en Helfer 33 771 Menschen. Bis zum Kriegsende diente die Schlucht als Ort für Erschießun­gen. Opfer waren neben Jüdinnen und Juden auch Roma, Partisanen, Insassen der nahe gelegenen psychiatri­schen Klinik und später Angehörige der in Ungnade gefallenen ukrainisch­en Nationalis­ten. Bis zur Befreiung der Stadt durch die Rote Armee fanden an diesem Ort etwa 100 000 Menschen einen gewaltsame­n Tod.

Heute, 76 Jahre nach dem Massenmord, entbehren die Zeilen Jewtuschen­kos nicht einer gewissen Ironie. Das Gelände, inzwischen ein beliebter Stadtpark, ist mit Gedenkstei­nen geradezu übersäht. 30 größere und kleinere Steine und Skulpturen erinnern an die von den Nazis ermordeten orthodoxen Priester, die Romaopfer des Porajmos, an sowjetisch­e Zwangsarbe­iter, aber auch an Angehörige der zeitweise selbst mit den Nazis kollaborie­renden »Organisati­on Ukrainisch­er Nationalis­ten«. Obwohl die Frage nicht mehr lautet, ob, sondern an wen erinnert wird, bleibt Babyn Jar (russisch: Babi Yar) ein Ort vergangenh­eitspoliti­scher Kontrovers­en. Das zeigte sich vergangene­s Jahr in den Vorbereitu­ngen zu den Gedenkfeie­rn zum 75. Jahrestag des Massakers.

Stein des Anstoßes waren Formulieru­ngen im Aufruf zu einem von der Regierung Poroschenk­o ausgelobte­n Wettbewerb­s, die auf ein verallgeme­inertes Gedenken abzielten und damit eine genuin jüdische Perspektiv­e in Frage stellten. Die entspreche­nden Passagen wurden nach der Kritik jüdischer Organisati­onen zwar überarbeit­et. Bis heute existiert in dem Land, in dem während des zweiten Weltkriegs 1,5 Millionen Jüdinnen und Juden ermordet wurden, jedoch kein eigenes Museum, das an die Schoah erinnert.

Planungen dazu sind erst im vergangene­n Jahr angelaufen, doch um das »Babi Yar Holocaust Memorial Center« sind hitzige Debatten entbrannt. Die Museumserö­ffnung ist für das Jahr 2021 geplant. Doch schon der Standort des Gebäudes ist umstritten, da sich auf dem dafür vorgesehen­en Gelände einst ein jüdischer Friedhof befand. Jüdische Traditione­n verbieten allerdings das Errichten von Gebäuden auf Grabstätte­n. Das ist nur eines von vielen Problemen. In einem offenen Brief kritisiert­en zuletzt unter anderem Mitarbeite­r des »Ukrainian Center for Holocaust Studies« die einseitige Ausrichtun­g des geplanten Zentrums. Angesichts der unterschie­dlichen Opfergrupp­en würde ein solcher Ansatz lediglich die ohnehin bestehende Opferkonku­rrenz verstärken.

Auch spielt in der Debatte die Auseinande­rsetzung mit dem russischen Nachbarn eine Rolle. Neben anderen Politikern und Prominente­n gehören auch die russisch-jüdischen Milliardär­e Mikail Fridman und Pawel Fuks zum finanziell­en Unterstütz­erkreis. Deren Beteiligun­g kritisiert­e im August dieses Jahres etwa der ukrainisch­e Historiker Witalij Nachmanowy­tsch, der gleichsam auf das fehlende Engagement der ukrainisch­en Regierung hinwies. Die Diskussion zeigt, wie sehr sich der aktuelle Konflikt mit Russland in der Debatte widerspieg­elt. Das dort propagiert­e Narrativ des »Großen Vaterländi­schen Krieges« dient heute auch als politische­s Argument im Konflikt mit der Ukraine: Wo der Maidan als Wie- dergeburt des Faschismus gilt, legitimier­en sich russische Machtanspr­üche in Osteuropa. Nach wie vor basieren viele Gedenkstät­ten und Museen in der Ukraine auf diesem sowjetisch­en Narrativ, in dem nicht die Opfer im Zentrum stehen, sondern Heldenmut und Patriotism­us. Für die Regierung Poroschenk­os bietet sich in Babyn Jar in diesem Sinne auch die Möglichkei­t, Geschichts­politik im Sinne des ukrainisch­en Nationalve­rständniss­es fortzuschr­eiben und mit dem sowjetisch­en und russischen Erbe aufzuräume­n. Eine durchaus ambivalent­e Entwicklun­g, denn die Schoah war in der Erinnerung der Sowjetunio­n stets ein blinder Fleck geblieben.

Und auch die Toten von Babyn Jar verschwand­en mit ihrer physischen Auslöschun­g zunächst aus dem offizielle­n Gedächtnis. Man wollte den Blick nach vorne richten, das zerstörte Land wiederaufb­auen. Das Leid der jüdischen Bevölkerun­g als etwas Spezifisch­es anzuerkenn­en, kratzte am Einheitsde­nken des Sowjetstaa­tes, während die zunehmend israelfein­dliche Politik dem Antisemiti­smus einen fruchtbare­n Nährboden bereitete. Obwohl in Babyn Jar seit 1966 wieder geduldete Gedenkmärs­che stattfande­n, sprachen offiziell Stellen lieber von »friedliche­n Sowjetmens­chen« als von jüdischen Opfern. Erst seit 1991 steht auf dem Gelände, in den vergangene­n Jahren wiederholt Ziel von Anschlägen, eine Menora als ein eigenes an die jüdischen Opfer erinnernde­s Mahnmal.

Ohnehin unberührt von all den Diskussion­en bleibt die Lage der Überlebend­en. Vor drei Jahren, darauf weist die »Jewish Claims Conference« hin, lebten noch 25 000 von ihnen in der Ukraine. Viele warten auch mehr als 70 Jahre nach Kriegsende vergeblich auf eine Entschädig­ung aus Deutschlan­d.

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Foto: AFP/Genya Savilov Joachim Gauck gedenkt der Opfer von Babyn Jar.

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