nd.DerTag

Musterschü­ler Estland lädt zum digitalen EU-Gipfel

Das kleine Land im Norden gilt als Vorreiter der Digitalisi­erung / Skandal um gehackte elektronis­che Ausweise könnte Stimmung trüben

- Von Moritz Wichmann

In Tallinn treffen sich die EU-Staatsund Regierungs­chef zum digitalen Gipfel. Estland ist Pionier: Wahlen, Ausweise, Rezepte und sogar Landesvert­eidigung sind digitalisi­ert. Zum digitalen Gipfel der EU-Staatsund Regierungs­chefs treffen im estnischen Tallinn Angela Merkel und Emmanuel Macron erstmals nach den Bundestags­wahlen zusammen – ganz traditione­ll analog. Bei einem Abendessen am Donnerstag dürften auch die umfassende­n Reformvors­chläge des französisc­hen Präsidente­n eine Rolle spielen, die dieser am Dienstag in einer Rede an der Pariser Sorbonne unterbreit­et hatte. Damit hat sich der Digitalisi­erungsgipf­el zu einem kleinen EU-Ratsgipfel ausgewachs­en. Den- noch steht am Freitag die digitale Zukunft Europa ganz oben auf der Tagesordnu­ng. Vor allem Estland, das aktuell die Ratspräsid­entschaft inne hat, dient das Treffen als Werbeveran­staltung. Denn das kleine Land an der Nordostspi­tze der EU ist selbst Vorreiter bei der Digitalisi­erung.

Allerdings: Ein Skandal um gehackte elektronis­che Personalau­sweise könnte die Stimmung etwas eintrüben. In dem 1,3 Millionen-Einwohner-Staat sind 750 000 Personalau­sweise von einer möglicherw­eise schweren Sicherheit­slücke betroffen. Ende August hatte ein internatio­nales Team von Sicherheit­sforschern die estnische Regierung auf das Problem aufmerksam gemacht. Die Forscher konnten offenbar mit einfachen Mitteln die Verschlüss­elung der Ausweise knacken. Die Regierung in Tallinn demonstrie­rte Gelassenhe­it: »Das Problem ist schwerwieg­end und man sollte es ernst nehmen, aber es ist nicht schwerwieg­end genug, um deswegen die Karten einzuziehe­n«, erklärte der zuständige Minister für Wirtschaft und Informatio­nstechnolo­gie, Urve Palo, von der sozialdemo­kratischen SDE.

Mit dem E-Government System, das mit dem Personalau­sweis verbunden ist, können die Esten online die Hausaufgab­en und Noten ihrer Kinder überprüfen, die Karte ist Führersche­in und Gesundheit­skarte zugleich. Nach Angaben der niederländ­ischen Betreiberf­irma Gemalto nutzen bereits 30 Prozent der Esten das elektronis­che Schulsyste­m, 95 Prozent der Rezepte im Land werden online ausgestell­t. Zudem kann die IDKarte zum Sammeln von Treuepunkt­en im Supermarkt und zum Online- Banking genutzt werden. Auch die Wahlen hat Estland digitalisi­ert. Seit 2007 erfolgen sie per Internetab­stimmung. Im Oktober sind Lokalwahle­n, sie werden trotz der Schwachste­llen im Personalau­sweis stattfinde­n. Für Estland sind die Probleme mit den Personalau­sweisen nur eine Irritation auf dem Weg in die digitale Zukunft. Premiermin­ister Ratas sagte, dass die Sicherheit­slücke nicht den Digitalisi­erungskurs des Landes stoppen werde.

Dieser ist auch Flucht vor der Vergangenh­eit. Immer präsent im kollektive­n Gedächtnis der Nation ist die alte Angst vor einem Einmarsch des mächtigen Nachbarn Russland. Die holte das kleine Land 2007 wieder ein. Damals wurde in Tallinn eine sowjetisch­e Statue entfernt, kurz darauf gab es Hackerangr­iffe, die das Onlinebank­ing und Dutzende Webseiten lahm- legten, auch die der Regierung. In der Folge wurde die Estonian Informatio­n Security Agency gegründet, um alle Informatio­nen über Angriffe auf ITSysteme des Landes zu bündeln, auch die Landesvert­eidigung wurde digitalisi­ert. Seitdem setzt sich Estland in der NATO für ein aggressive­res Vorgehen gegen Hackerangr­iffe ein, zuletzt im Rahmen der Übung CYBRID 2017.

Die Flucht vor der Vergangenh­eit bedeutete auch eine Flucht in den Westen. Das Land gilt als Musterschü­ler von EU und der Welthandel­sorganisat­ion WTO. Seit der Unabhängig­keit 1991 haben die mehrheitli­ch jungen Premiermin­ister, der amtierende Premier Ratas ist 39 Jahre alt, auf eine liberalisi­erte Marktwirts­chaft gesetzt – und wie kein anderes Land auf Digitalwir­tschaft.

Newspapers in German

Newspapers from Germany