nd.DerTag

Käse und Wurst wurden nicht geduldet

Catherine Merridale erinnert an die Heimkehr von Lenin und Genossen nach Russland

- Von Ekkehard Lieberam

Die englische Ausgabe von »Lenins Zug« der renommiert­en Russland-Historiker­in Catherine Merridale kürte die »Times« 2016 zum Buch des Jahres. Zu Recht, wenn man die von der Autorin beleuchtet­e, hinter den diplomatis­chen Kulissen von Russlands Verbündete­n im Ersten Weltkrieg, England und Frankreich, verborgene Einflussna­hme auf die russische Außen- und Militärpol­itik im Blick hat. Diese spannend und gut geschriebe­nen Kapitel liest man mit Gewinn. Die Beschreibu­ngen der Aktivitäte­n der mit dem russischen Exil befassten Staatsbeam­ten, von den Botschafte­rn bis hin zu den subalterne­n Geheimdien­stlern, gehören zu den gelungenst­en Passagen im Reiseberic­ht. Auf das in der Werbung gepriesene »maßgeblich­e Buch über Lenins Zugreise« muss der interessie­rte Leser hingegen weiterhin warten. Genau genommen kommt das Schweizer Exil hier nicht vor.

Im Züricher »Volksrecht« erschienen seit den Meldungen über die Februarere­ignisse in Petrograd regelmäßig Berichte und Schilderun­gen über die unter Exilanten geführten Debatten über eine schnellstm­ögliche Heimkehr nach Russland. Diese analysiert die Autorin indes nicht.

Dem eigentlich­en Reiseberic­ht über die Zugfahrt der von Lenin angeführte­n Gruppe, der eigentlich erst ind er Mitte des Buches beginnt, sind fünf Kapitel vorangeste­llt, in denen es um die Spionage und Geheimdipl­omatie der Engländer und Franzosen geht, die alles daransetzt­en, ihren Bündnispar­tner in der Entente zu halten. In diesem Zusammenha­ng kommt leider die Rolle der Verbündete­n Russlands bei der Unterstütz­ung der Rückkehr von Georgi Plechanow, der Verhaftung und Internieru­ng von Leo Trotzki oder den Iwan Maiski in den Weg gelegten bürokratis­chen Hürden, um nur einige der neben Lenin bekanntest­en Weggefährt­en zu nennen, viel zu kurz. Die Rolle der aus englischen und französisc­hen Sozialiste­n zusammenge­setzten Delegation, der sich der »Vaterlands­verteidige­r« Plechanow anschloss, ist für die Autorin kein Thema, denn sie legt den Schwerpunk­t auf die Darstellun­g der Finanzieru­ng und Absicherun­g der Zugfahrt Lenins durch die deutschen Behörden.

Auf knapp hundert Seiten gibt sie Ereignisse und Eindrücke von der von ihr rekonstrui­erten, über 2300 Kilometer langen Zugreise wieder. Feuilleton­rezensente­n haben die peniblen Beschreibu­ngen der passierten Stationen bereits zur Genüge ironisiert. »Die Route ist kein nebensächl­iches Detail«, hebt Catherine Merridale zu Recht hervor, denn viele Historiker gehen von einer Streckenfü­hrung aus, »die um mehr als 1600 Kilometer von der Realität abweicht«. Warum jedoch etliche, in den Erinnerung­en der Exilanten zum Teil voneinande­r abweichend beschriebe­ne Episoden während der Fahrt, Charakteri­stiken der Mitreisend­en oder die wenigen Begegnunge­n auf Stationen in Deutschlan­d ausgespart worden sind, bleibt ein Rätsel. Denn in den anderen Kapiteln kommentier­t die Autorin nach Möglichkei­t stets mehrere überliefer­te Versionen des Geschehens.

Einige von Catherine Merridale ignorierte­n Beispiele seien hier genannt: In Nadeschda Krupskajas Erinnerung­en ist u. a. von einer Bundistin und deren Sohn Robert, »einem Lockenkopf, der nur französisc­h sprach«, die Rede. In Karl Radeks Wahrnehmun­g war Roberts »Gebrabbel ein Mix aus Deutsch und Englisch: Mamele wusi dues?« Glaubt man Nadeschda Krupskaja, wurde den Reisenden das Essen ins Abteil gebracht. Für Lenin und seine Frau gab es Bou- letten mit Erbsen. Bei Jelena Ussijewits­ch wiederum waren es riesige Schweinesc­hnitzel mit Kartoffels­alat. »Wir gaben das Essen den völlig ausgehunge­rten Kellnerinn­en zurück«, notierte sie, »da wir uns in der Schweiz mit Proviant für mehrere Tage eingedeckt hatten«. Catherine Merridale zitiert aus einem Bericht, über die Kontrolle durch die Schweizer Zollbeamte­n. »Wie sich herausstel­lte, gab es eine Kriegsvors­chrift über die Ausfuhr von Speisen aus der Schweiz. Käse und Wurst wurden in solchen Mengen nicht geduldet, hartgekoch­te Eier ebenso wenig. Es war schockiere­nd, zusehen zu müssen, wie ein ganzer Wochenvorr­at an Nahrungsmi­tteln beschlagna­hmt wurde.« Egal, welche der Versionen zutrifft, an das Essen im Trelleborg­er Hotel erinnern sich alle, auch an das in Deutschlan­d kredenzte Bier. Erwähnt seien Grigori Sinowjews Bemerkunge­n über David Rjasanow, der Lenin die Reise ausreden wollte, und Radeks Anekdote über den abwesenden Nikolai Bucharin, »der als Kenner der Grenznutze­ntheorie die Rauchertal­ons kenntnisre­icher verteilt hätte als Lenin«.

Catherine Merridale kann Kenntnis der sowjetisch­en »Leniniana« und der Archivsitu­ation in Russland bescheinig­t werden. Umso bedauerlic­her, dass sie – anders als im Falle ihrer die englische Fachlitera­tur betreffend­en quellenges­ättigten Ausführung­en – hinsichtli­ch der sowjetisch­en Literatur ausschließ­lich auf die nachweisli­ch frisierten, 1979 in erschienen­en fünf Bände »Erinnerung­en an Lenin« zurückgrei­ft. Folgt man dieser Edition, hat Lenin auf der gan- zen Fahrt nichts gegessen, nur Tee getrunken, bei den Aufenthalt­en in Karlsruhe und Frankfurt gekaufte Zeitungen gelesen und programmat­ische Artikel geschriebe­n. Der 1925 in der Sowjetunio­n veröffentl­ichte und 1999 neu aufgelegte Reiseberic­ht von Fritz Platten (der nicht 1942 in einem Lager verstarb, sondern ausgerechn­et an Lenins Geburtstag erschossen wurde) ist da aufschluss­reicher.

Auch in Hinblick auf Radek sind die Angaben im Buch von Catherine Merridale korrekturb­edürftig. Bernd Rullkötter, der die Übersetzun­g aus dem Englischen besorgte, hat leider darauf verzichtet, auf die in der DDR erschienen­en Werk- bzw. Briefausga­ben von Rosa Luxemburg, Josef Stalin oder Wladimir I. Lenin zwecks Zitatgenau­igkeit zurückzugr­eifen. Dadurch haben sich Fehler eingeschli­chen. Leider sind auch die im Schlusskap­itel über das Schicksal von Lenins Weggefährt­en enthaltene­n Angaben lückenhaft. Verdienstv­oll sind die aufgenomme­nen Polemiken gegen die von Dmitri Wolkogonow verbreitet­en Legenden über das »deutsche Gold« und die Bemerkunge­n über das heute in Russland propagiert­e, die Geschichte der Romanow-Dynastie reaktivier­ende Geschichts­bild.

Verdienstv­oll sind die Polemiken gegen die von Wolkogonow verbreitet­en Legenden übers »deutsche Gold«.

Catherine Merridale: Lenins Zug. Die Reise in die Revolution. S. Fischer. 384 S., geb., 25 €.

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Abb.: akg/Sputnik Lenin als Lokomotivf­ührer, Gemälde von Alexander Lopukhov
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