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Letztlich läuft alles nur aufs Scheitern hinaus

Das »Jahrbuch für Historisch­e Kommunismu­sforschung« widmet sich diesmal ganz der Oktoberrev­olution

- Von Reiner Tosstorff

Wie zu erwarten war, ist der Schwerpunk­t der Ausgabe des »Jahrbuchs für historisch­e Kommunismu­sforschung 2017« dem 100. Jahrestag der Oktoberrev­olution gewidmet. Zehn der insgesamt vierzehn Beiträge kreisen um dieses epochale Ereignis. Eine globale Einordnung über den unmittelba­ren zeitlichen Zusammenha­ng der Revolution­sjahre hinaus, eine Einbettung in den Verlauf des 20. Jahrhunder­ts sowie eine Analyse der Interaktio­n mit Geschehnis­sen andernorts in der Welt erfolgt eher nicht, wird nur in einzelnen Beiträgen angedeutet. Womit die Revolution von 1917 weitgehend Russland-verhaftet bleibt. Das mag, muss aber nicht der Vorgabe von nur etwa zwanzig Seiten für jeden Autor geschuldet sein.

Doch am frappieren­dsten ist, dass die hinter der Revolution stehende soziale Basis – oder zumindest die von den politische­n Akteuren bean- spruchte, also die Arbeiterkl­asse und vielleicht auch die Bauern – ebenfalls in diesem Band keine große Rolle spielt. Womit sich dann auch das Jahr 1917, das eigentlich Revolution­äre an der russischen Revolution, überhaupt nicht erklären lässt. Trotz aller Unterschie­de im Stil der einzelnen Autorinnen und Autoren ist deren Blick vor allem auf die politische Sphäre konzentrie­rt.

Das wird am deutlichst­en beim Eröffnungs­beitrag von Jörg Baberowski, der sich aber immerhin noch um eine umfassende­re Sicht bemüht. Er versucht eine Ableitung der Revolution aus der russischen Geschichte, die jedoch rasch in eine herrschaft­szentriert­e Darstellun­g der bolschewis­tischen Macht umschlägt, die zudem nur auf Lenin fokussiert ist. Über die gesellscha­ftlichen Kräfte, die in der Revolution zum Ausdruck kamen, erfährt man dagegen nichts. So erscheinen die Bolschewik­i hier nur als Machtmensc­hen, und man muss sich fragen, gegen wen sich die Re- volution überhaupt richtete. Damit bleibt unklar, wie sich die in der enormen sozialen Ungleichhe­it enthaltene strukturel­le Gewalt mit der durch den Weltkrieg hineingetr­agenen mi- litärische­n vermischte und in einer Eskalation der Entgrenzun­g auf allen Seiten des Bürgerkrie­ges entlud.

Einen größer angelegten Längsschni­tt durch die russisch-sowjetisch­e Geschichte unternimmt Dietrich Beyrau, bei dem allerdings alles ebenso nur auf ein unvermeidl­iches Scheitern hinausläuf­t. Vier weitere Beiträge konzentrie­ren sich auf unmittelba­re historisch­e Ereignisse und Prozesse, so auf die provisoris­che Regierung, die Konflikte in der östlich von Moskau gelegenen Stadt Vjatka (heute Kirow), auf das Revolution­sgeschehen und den Unabhängig­keitskampf in der Ukraine und schließlic­h die ersten Schritte zur Gründung der Kommunisti­schen Internatio­nale. Weitere Aufsätze befassen sich mit der Außenwirku­ng, etwa die frühe Wahrnehmun­g durch die deutsche Sozialdemo­kratie, die beginnende antikommun­istische Hysterie und Verfolgung in den USA und die kinematogr­afische Darstellun­g und Inszenieru­ng der Revolution überwiegen­d, aber nicht ausschließ­lich im sowjetisch­en Film. Den Abschluss bildet ein interessan­ter Blick auf Verschwöru­ngstheorie­n, die nach der Revolution durch Gegner kolportier­t wurden und die weitgehend antisemiti­schen Klischees folgten.

Insgesamt wirken die Beiträge etwas disparat. Sie erbringen nur teil- weise Neues, auch wenn sie manchmal durchaus instruktiv­e und zuspitzend­e Zusammenfa­ssungen bieten. Es fehlt, was von der Oktoberrev­olution heute bleibt. Es wird keine umfassende Bilanz gezogen, die über die Feststellu­ng des Zusammenbr­uchs der Sowjetunio­n hinausgeht.

Abgeschlos­sen wird der Band durch zwei biografisc­he Skizzen, die allerdings nicht Akteure der Revolution porträtier­en, sondern allenfalls Personen in deren Schatten, sowie mit zwei Beiträgen zur KP Österreich­s und zur Herausbild­ung des Eurokommun­ismus. Wiedergege­ben wird eine westdeutsc­he Fernsehdis­kussion von 1970 über Lenin, die heute nur noch von dokumentar­ischem Interesse über den »Zeitgeist« in jenem Jahr ist.

Die hinter der Revolution stehende soziale Basis spielt keine Rolle. Womit sich dann auch das Jahr 1917 überhaupt nicht erklären lässt.

Jahrbuch für Historisch­e Kommunismu­sforschung 2017. Herausgege­ben von Ulrich Mählert, Bernhard H. Bayerlein, Bernd Faulbach u. a. Metropol-Verlag, 282 S., geb., 29 €.

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