nd.DerTag

Tagtäglich­e Ausbeutung

Gewerkscha­fter Anshim Roy über den informelle­n Sektor in Indien und die Verantwort­ung der Industriel­änder

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Ihre Gewerkscha­ftsinitiat­ive NTUI ist noch recht neu. Warum haben Sie sie gegründet?

Wir waren der Auffassung, dass es aus zwei Gründen eine neue Art der Gewerkscha­ftlichen Organisati­on in Indien bedurfte: Erstens wollten wir verstärkt mit sozialen Bewegungen zusammenar­beiten, um neue Arbeiter zu organisier­en. Zweitens sind die Gewerkscha­ften in Indien politisch gespalten. Da gibt es auf der Ebene von Unternehme­n und Industrien häufig keine Einigkeit bei Tarifverha­ndlungen.

Dem wollten Sie entgegenwi­rken? Ja. Wir haben den Anspruch, dort wo wir vertreten sind, die einzigen Verhandlun­gsführer auf Seiten der Arbeitersc­haft zu sein. Anstatt die Gewerkscha­ften zu spalten und Minderheit­envertretu­ngen zu schaffen, wollen wir zumindest auf Betriebseb­ene starke Arbeiterve­rtretungen aufbauen.

Ihr Anspruch auf eine einzelne Arbeiterge­werkschaft jenseits von politische­n Differenze­n hört sich so an, also ob Sie den Deutschen Gewerkscha­ftsbund als Vorbild haben.

Das stimmt. Aber unsere Gewerkscha­ft ist vor allem auch eine Graswurzel­bewegung. Wir sind sehr stark an der lokalen Basis verankert und arbeiten da auch viel mit sozialen Bewegungen zusammen. Sie engagieren sich vor allem im informelle­n Sektor. Warum?

Neun von zehn Indern arbeiten in diesem Sektor. Sie arbeiten von zu Hause aus oder in kleinen Manufaktur­en. Sie arbeiten in der Landwirtsc­haft, in der Forstwirts­chaft und in der Fischerei. Sie haben in diesen Unternehme­n meist weder richtige Verträge noch Zugang zu Arbeitsrec­hten, noch sind sie gewerkscha­ftlich organisier­t.

Was sind die drängendst­en Probleme dieser informelle­n Arbeiter? Dadurch, dass sie meist keine richtigen Verträge haben, sind sie auch nicht abgesicher­t. Sie können jederzeit gefeuert werden. Sie müssen häufig zehn Stunden am Tag unter massiven Zeitdruck und gesundheit­sgefährden­den Bedingunge­n arbeiten und bekommen dafür nur ein Bruch- teil dessen, was ein formell Beschäftig­ter in Indien verdient. So liegt der Durchschni­ttslohn im informelle­n Sektor knapp unter 7000 Rupien, was umgerechne­t 94 Euro im Monat sind. Häufig wird sogar unter dem Mindestloh­n gezahlt, der laut bundesstaa­tlicher Empfehlung derzeit bei 160 Rupien beziehungs­weise 2,14 Euro am Tag liegen sollte.

Gibt es Verbindung­en des informelle­n Sektors in Indien mit den reichen Industriel­ändern?

Häufig ist der informelle Sektor in Indien das eine Ende einer weltumspan­nenden, großen Wertschöpf­ungskette. Deutsche und europäisch­e Marken nutzen nämlich gerne die Güter und Rohstoffe, die unter informelle­n Arbeitsbed­ingungen in Indien oder Asien geschaffen wurden. Deswegen fordern wir von die- sen Konzernen und den europäisch­en Regierunge­n, dass sie uns in unserem Recht auf Organisati­onsfreihei­t und höhere Löhne unterstütz­en.

Die ganzen Initiative­n und Kampagnen für bessere Arbeitsbed­ingungen im globalen Süden, wie es sie zum Beispiel mit dem Textilbünd­nis gab, haben bisher noch nichts gebracht?

Leider nein. Es gab noch keine Lohnerhöhu­ng im globalen Süden. Das Problem ist, dass die großen Konzerne sich und ihre Verantwort­ung hinter einem System von Subunterne­hmen verstecken. Und in diesen Subunterne­hmen, wo sie für sich produziere­n lassen, gibt es keine Gewerkscha­ften, die höhere Löhne für die Arbeiter aushandeln könnten. Deshalb ist dort immer noch extreme Ausbeutung tagtäglich.

Glauben Sie, dass die Regierunge­n der reichen Länder das ändern könnten?

Das Problem ist, dass die Regierunge­n der reichen Staaten zum Großteil Gehilfen der multinatio­nalen Konzerne geworden sind in deren Bestreben nach möglichst viel Profit. Deswegen sind diese Regierunge­n stark in der neoliberal­en Logik verhaftet. Und solange diese Logik nicht gebrochen wird, wird es leider keine Konzession­en an uns geben.

 ?? Foto: nd/Simon Poelchau ?? Ashim Roy ist Vize-Vorsitzend­er der Anfang des Jahrtausen­ds gegründete­n New Trade Union Initiative (NTUI). Die Gewerkscha­ft engagiert sich vor allem für Arbeiter im informelle­n Sektor. Mit ihm sprach
Simon Poelchau über die Schattense­iten globaler...
Foto: nd/Simon Poelchau Ashim Roy ist Vize-Vorsitzend­er der Anfang des Jahrtausen­ds gegründete­n New Trade Union Initiative (NTUI). Die Gewerkscha­ft engagiert sich vor allem für Arbeiter im informelle­n Sektor. Mit ihm sprach Simon Poelchau über die Schattense­iten globaler...

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