Hollywood im Maghreb
Hédi Kaddour führt in eine kleine Wüstenstadt im Jahre 1922
Eine spannende Zeit der Umbrüche, Aufbrüche und Veränderungen wird in diesem großen Roman lebendig. Hédi Kaddour, 1945 als Sohn eines Tunesiers und einer Französin in Tunis geboren, lässt uns in einen Schmelztiegel sehr unterschiedlicher Kulturen, Traditionen, Lebensweisen, Charaktere und Ansprüche eintauchen.
Nordafrika im Jahr 1922: Die kleine Wüstenstadt Nahbés liegt auf einem Plateau am Meer. Ihr Zentrum ist zweigeteilt, wie die Gesellschaft insgesamt, in einen französischen, westlich geprägten Teil und die orientalische Medina mit der Moschee und den Souks. Da sind zum einen »die Großmächtigen«, die Bourgeoisie des Landes, die Familien der Minister und ehemaligen Minister wie des Si Mabrouk und des Caïd Si Ahmed, Verwaltungsbeamte, Ärzte, Großgrundbesitzer. Dazu gehören auch die einflussreichen französischen Siedler wie der reiche Kolonist Ganthier. Und da sind auf der anderen Seite die »Eingeborenen«, arabische Kaufleute, Händler, Kleinbauern und Arbeiter, die »Masse von Habenichtsen«.
Aber diese Welt hat Risse bekommen. Die Kinder der reichen Araber haben westliche Bildung erfahren. Raouf, der Sohn des Caïd, zitiert Rousseau, Balzac oder Baudelaire ebenso wie den arabischen Dichter Rumi aus dem Mittelalter. Zugleich liebäugelt er mit kommunistischen Ideen. Die junge Witwe Ranja, deren Mann im Weltkrieg gefallen ist, behauptet ihre Eigenständigkeit in der männlich geprägten Gesellschaft.
In diese Welt, in der viele Menschen überhaupt noch nie einen Film gesehen haben, fällt – auf der Flucht vor einem Skandal in Hollywood – ein amerikanisches Team ein, um einen Film mit dem Titel »Wüstenkrieger« zu drehen. Es bringt eine völlig fremde Lebensart und Freizügigkeit mit.
Hübsch und selbstbewusst zieht die amerikanische Schauspielerin Kathryn den jungen Raouf in ihren Bann, und die kesse Pariser Journalistin Gabrielle fasziniert den französischen Landbesitzer Ganthier. Die vier beschließen, zusammen eine Reise nach Paris und Berlin zu unternehmen. Diese Zentren europäischer Kultur und Politik sind zwar noch vom Krieg gezeichnet, haben aber schon längst begonnen, sich neu zu erfinden. Schon brodelt das Leben und das Lebensgefühl …
Wie bunte Fäden sind im Roman verschiedene Handlungsmuster und Ereignisse verknüpft. Da ist zum einen das moderne, freizügige, individualistische Amerika – Hollywood 1922 in Maghrebinien. Da ist zum anderen der junge, reiche Araber auf »Weltreise« zu den europäischen Kulturhauptstädten der damaligen Zeit, zudem »infiziert« mit kommunistischem Gedankengut. Und außerdem wird auch noch die Geschichte des verschlagenen Teppichhändlers Belkhodja wie ein trauriges orientalisches Märchen erzählt. Das alles zusammen gleicht einem verschlungenen Teppichmuster, bei dem man leicht die Details oder »den Faden« verlieren könnte. Aber weit gefehlt!
Als großes »Endspiel« – für den Leser nicht vorhersehbar, jedoch konsequent – fügt Hédi Kaddour alles zusammen, zu einem dunklen Muster allerdings.
»Hollywood«, die westliche Moderne mit ihrer Unordnung, ist nur die Lunte, die das Feuer hier in Afrika am Rande der Wüste entzündet. Das »Lumpenproletariat« erhebt sich. Vor allem Minenarbeiter und Eisenbahner sehen wir in einem Demonstrationszug. Inmitten von Stranddisteln und Brennnesseln, durch die sie ziehen, erklingt der Ruf: »Wacht auf, Verdammte dieser Erde!«
Am Ende ist die Bilanz: ein halbes Dutzend Leichen! Aber selbst das genügt dem Autor noch nicht. Es folgen die »ägyptischen Plagen«: Riesige Heuschreckenschwärme fallen vom Süden her ein. Aber moderne Eisenwalzen zermalmen sie. Es ist »ein Kampf des zwanzigsten Jahrhunderts«, in dem die Gewalt obsiegt. Die Geschichten haben viel historisches Kolorit und zugleich erstaunliche Aktualität. Inspiriert von alten Berichten, Phantasie, Erzählkunst und Film, mutet der Roman wie ein spannendes Gegenwartsszenarium an.
Hédi Kaddour:
Die Großmächtigen. Roman. A. d. Franz. v. Grete Osterwald. Aufbau Verlag, 476 S., geb., 24 €.