Demokratische Vorreiter
Minderheitsregierungen können eine stabile Alternative sein, sagt die Politikwissenschaftlerin Maria Thürk
Seit der Bundestagswahl hat das Thema Minderheitsregierung so gut wie keine Rolle gespielt. Woran liegt das?
In Deutschland ist das Thema aufgrund unserer Vergangenheit durch die Weimarer Republik sehr negativ besetzt. Man geht von einem Krisenphänomen aus, von einer schwachen Regierung. Aber wenn wir uns die Länder angucken, in denen wir die häufigsten Minderheitsregierungen haben, dann sind das Länder, in denen wir eigentlich traditionell davon ausgehen, dass sie die Vorreiter in Demokratie und Politikinhalten sowie von sehr progressiven Ideen sind und keine instabilen, schwachen Regierungen. In Dänemark hat es seit den 1970er Jahren keine einzige Mehrheitsregierung mehr gegeben. In Schweden oder Norwegen gab es im selben Zeitraum nur drei Mehrheitsregierungen – von 19 beziehungsweise 20 Regierungen insgesamt. Neuseeland wird seit 1998 nur von Minderheitsregierungen regiert.
2013 spielte das Thema Minderheitsregierung nach der Bundestagswahl eine größere Rolle als jetzt. Wurden die Kritiker, die sich damals gegen eine Große Koalition aussprachen, durch das jetzige Wahlergebnis bestätigt?
Ja, das könnte man schon so sagen. Große Koalition heißt immer auch eine schwache Opposition. Und besonders unter Minderheitsregierungen hat man eine Stärkung des Parlaments. Weil die Parteien stärker involviert sind ins Regierungsgeschehen und nicht alles ausschließlich im Kabinett bestimmt wird, vor allem, wenn man die beiden großen Parteien – sofern man sie noch als groß bezeichnen kann – in der Regierungskoalition hat.
Dennoch gehören Minderheitsregierungen nicht zur Politikkultur in Deutschland. Könnte dadurch auch die Demokratie gestärkt werden? Man könnte es so sehen, dass, wenn wir verstärkt Minderheitsregierungen auch in Deutschland zulassen würden, es mehr Wahlfreiheit gibt und weniger lagerübergreifende Regierungskoalitionen. Dazu bedarf es allerdings eine Bereitschaft aller Parteien. Denn was droht ist, dass wir in einer lagerübergreifenden Regierungskoalition – wie zum Beispiel einer Großen Koalition – mehr Reformstillstand erleben, weil sich alle Partner einigen müssen. Das könnte auch in der Jamaika-Koalition passieren. Unter einer Minderheitsregierung könnte es so sein, dass die CDU/CSU zum Beispiel eine Minderheitsregierung stellen würde und für bestimmte Themen mit SPD/Grünen zusammenarbeitet und für bestimmte Themen mit der FDP und darauf hofft, dass eine andere Partei sich enthält. Die Möglichkeit für Reformen wird dadurch gestärkt. Gleichzeitig lässt sich eine Minderheitsregierung aus dem Mitte-Rechts-Spektrum bei der nächsten Wahl leichter gegen eine Regierung aus dem Mitte-LinksSpektrum austauschen.
Welche Rolle würde die AfD in einer CDU-geführten Minderheitsregierung spielen?
Ich sehe momentan nicht, dass die CDU sich auf eine Kooperation mit der AfD einlassen würde. Das würde auch zu viele WählerInnenstimmen kosten. Was möglich ist: Dass man sich darauf verlässt, dass die AfD ohne Absprache bestimmte Gesetzesvorhaben von der CDU/CSU-Fraktion dadurch toleriert, dass sie nicht dagegen stimmt, sondern sich im Bundestag enthält. Aber Absprachen selbst hinter verschlossenen Türen kann ich mir momentan mit dieser AfD und dieser CDU nicht vorstellen.
In der vergangenen Woche hat die Berliner Grüne Canan Bayram sich für eine Minderheitsregierung ausgesprochen. Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass es tatsächlich dazu kommt?
Ich halte es für unwahrscheinlich. Die Grünen haben schon mit der Wahl ihres Spitzenkandidaten und ihrer Spitzenkandidatin gezeigt, dass sie momentan eher in die Mitte-RechtsRichtung tendieren, zumal der linke Flügel geschwächt ist. Canan Bayram gehört zu den wenigen, die diese Koalition nicht unterstützen würden. Obwohl es strategisch wahrscheinlich nicht verkehrt wäre. Wir sehen in der Forschung, dass Junior-Koalitionspartner besonders häufig Verluste in den nächsten Wahlen erleiden, wohingegen Unterstützungsparteien ihre Wahlergebnisse in der Regel halten oder teilweise sogar verstärken konnten. Die Chance, dass die Koalitionsgespräche scheitern, ist eher gering, weil man den Grünen dann vorwerfen würde – ähnlich wie es bisher bei der SPD war – dass man sich der Verantwortung entzieht.
Glauben Sie, dass die Jamaika-Koalition an Fragen der sozialen Gerechtigkeit oder der Obergrenze zerbrechen könnte?
Natürlich wäre es in einer JamaikaKoalition schwieriger, Reformen zu verabschieden, als in einer schwarzgelben Regierung, hätte sie die Mehrheit. Ganz eindeutig gibt es beson- ders große Unterschiede zwischen der Union, der FDP und den Grünen, wenn es zum Beispiel um Migration und Integration geht, aber auch, wenn es um soziale Gerechtigkeit geht. Diese Themen werden es sein, die entscheiden, ob die Regierung langfristig überlebt.
Jetzt haben wir mit der AfD erstmals seit 1953 wieder sechs Parteien im Bundestag. Ist das DreiParteien-System damit endgültig Geschichte, oder ist das nur ein Krisenphänomen?
In vielen Ländern sehen wir seit vielen Jahren viele Parteien. Das hat etwas mit der Individualisierung der Gesellschaft zu tun, mit dem Aufbröckeln der klassischen LinksRechts-Achse, wo es nur darum geht, Einkommen zu verteilen – mehr Steuern oder weniger, wenn man es runterbrechen möchte. Für viele verschiedene Themen gibt es wichtige politische Standpunkte, die von den verschiedenen Parteien aufgegriffen werden. Es gibt mehr Konfliktlinien in unseren Gesellschaften, als wir sie noch vor einigen Jahren hatten. Das macht die Verhandlungen zu Regierungskoalitionen schwieriger, auch die Verabschiedung von Gesetzen, aber es ist nicht unbedingt ein Krisenphänomen, es zeigt auch, dass die BürgerInnen besser repräsentiert sind.
Werfen wir mal einen Blick nach Großbritannien, wo Theresa May gerade die Regierung um die Ohren zu fliegen scheint, oder nach Spanien, wo Katalonien dabei ist, sich vom Zentralstaat loszusagen – das sind beides Minderheitsregierungen.
Spanien hat eine Tradition von Minderheitsregierungen. Ungefähr die Hälfte aller Regierungen seit Ende der Franco-Diktatur waren Minderheitsregierungen. In Spanien ist es eher ein Zufall, dass das gerade eine Minderheitsregierung ist. Im Vereinigten Königreich hat die schwache Position von Theresa May hingegen tatsächlich etwas damit zu tun. Aber hier haben wir auch keine Tradition von Minderheitsregierungen. Da gilt ja schon eine Koalitionsregierung als schwach, selbst wenn sie die Mehrheit des Parlaments kontrolliert. Beides hat mit dem Brexit zu tun und mit dem Erstarken von regionalen und nationalen Tendenzen in der Bevölkerung. Was dazu führt – und das in beiden Ländern –, dass die traditionellen Parteien an Zuspruch verlie- ren. Das ist eher das Problem der Parteien, die nicht wissen, wie sie mit dem Wählerschwund umgehen müssen, den sie früher nicht kannten.
Demnach sind die beiden Länder derzeit eher ein unglücklicher Zufall?
Am Beispiel der Länder, wo wir regelmäßig Minderheitsregierungen haben, kann man sehen, dass, wenn sich die Parteien kooperationsbereit zeigen und nicht in die Frontalopposition gehen, Minderheitsregierungen langfristig stabil und effizient funktionieren können. Und das sind neben den bereits genannten skandinavischen Ländern etwa auch Neuseeland, Kanada oder Irland. Und mit Blick nach Deutschland ist zuletzt die Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen unter Hannelore Kraft eher durch ein Missverständnis und politisches Ungeschick von Linkspartei und FDP gescheitert, auch weil die Regierungskommunikation nicht gut war. Aber hier waren alle Parteien bereit, mit der SPD/Grünen-Minderheitsregierung zusammenzuarbeiten. DIE LINKE hat genauso mit der Regierung zusammengearbeitet wie die CDU oder die FDP, und es kamen große erfolgreiche Reformprojekte unter dieser Minderheitsregierung in den zwei Jahren zustande. Man sieht im internationalen Vergleich übrigens auch, dass Minderheitsregierungen nicht weniger Wahlversprechen durchsetzen können als Koalitionsregierungen.