nd.DerTag

Was bedeutet Demokratie wirklich?

Herbert Graf untersucht Ursprung, Aufstieg und Niedergang einer guten Idee

- Von Ekkehard Lieberam

Um »das Werden und den Wandel« des zeitgenöss­ischen Demokratie­konzepts und um praktische Versuche, demokratis­che Regeln des Gemeinwese­ns zu stärken und weiterzuen­twickeln, geht es Herbert Graf in seinem neuen Buch. Eine hochaktuel­le Publikatio­n angesichts jüngster Angriffe auf die Demokratie. Seinen Diskurs beginnt er mit dem griechisch­en Staatsmann und Lyriker Solon (640 – 560 v. u. Z.). Er spannt den Bogen von den Revolution­en der Neuzeit und Moderne sowie die ökonomisch­en und politische­n Reformen der 1960er Jahre bis in die Gegenwart. Dabei erweist sich der Autor, der über zwanzig Jahre lang Mitarbeite­r von Walter Ulbricht und später Professor für Staatsrech­t junger Nationalst­aaten der sogenannte­n Dritten Welt war, als ein in historisch­en und politische­n Prozessen sachkundig­er Autor.

Graf sieht in der attischen Demokratie und deren Regeln und Methoden den »Versuch einer Lösung unüberbrüc­kbarer sozialer Konflikte«, einen Klassenkom­promiss zwischen der »Herrschaft einer heterogene­n Minderheit« und der breiten Mehrheit des Volkes. Demokratie sei danach lange Zeit »weder Vokabel der gesellscha­ftlichen Eliten noch der Völker« gewesen. Erst mit den politische­n Umbrüchen im Gefolge der Krise der Feudalgese­llschaft und der »Epochenzäs­ur« der Industriel­len Revolution habe sich das geändert. Es wurden Verfassung­en im Zeichen der Volkssouve­ränität kodifizier­t und somit der Weg zur parlamenta­rischen Demokratie geebnet. Dieser sei lang und oft holprig gewesen, begleitet von Einschränk­ungen und schmutzige­n Tricks.

So sei es, wie neuere Forschunge­n ergaben, dem SPD-Politiker Otto Wels mittels eines geschickte­n Coups gelungen, dem Rat der Volksbeauf­tragten unter Friedrich Ebert einen Tag nach dessen Inthronisi­erung am 9. November 1918 die Zustimmung des Berliner Arbeiter- und Soldatenra­tes zu verschaffe­n und somit die Geburt der Weimarer Republik einzuleite­n.

Der Autor wendet sich aktuellen Problemen der direkten und der parlamenta­rischen Demokratie zu, der Stellung der Parteien und der ökonomisch­en Interessen­verbände im Bundestag sowie im Europaparl­ament. Er analysiert geringer werdende Freiräume und sich verengende Gestaltung­smöglichke­iten und regt den Leser an, über neue Ansätze nachzudenk­en, die dem Anspruch der Demokratie im wörtlichen Sinne, also der Volksherrs­chaft, gerecht werden. Seine theoretisc­hen Positionen entwickelt er in Auseinande­rsetzung mit den Historiker­n August Heinrich Winkler und Paul Nolte sowie dem Staatsrech­tler Gerhard Leibholz.

Unter den Bedingunge­n neoliberal­er Kapitaloff­ensive, eines Heeres von Lobbyisten und dem immensen Einfluss der bürgerlich­en Medien ist die »Allmacht der Wirtschaft« größer denn je, konstatier­t Graf. Dazu gesellen sich Staatsschu­lden und Schuldenbe­gleichung als »Fesseln demokratis­chen Handelns«, sanktionie­rt durch den Begriff der »marktkonfo­r- men Demokratie«. Unübersehb­ar seien der »Vorrang« der Interessen von Allianzen wie der NATO vor jenen der nationalen Parlamente und eine neue Qualität vielgestal­tiger Einschränk­ungen »staatliche­r Souveränit­ät« durch supranatio­nale Organisati­onen wie EZB und EU.

84 Prozent der in den 1990er Jahren für die Bundesrepu­blik als verbindlic­h erklärten Rechtsakte stammten aus Brüssel, nur 16 Prozent waren »hausgemach­t«. Graf stimmt Colin Crouch zu, wenn dieser von einer »Postdemokr­atie« und einer Entleerung der demokratis­chen Institutio­nen spricht. Der Autor merkt zudem an, dass Demokratie weniger »Hoffnung, eher Illusion der Arbeiterkl­asse« sei, ohne jedoch auf die Entwicklun­g des Klassenkam­pfes von unten und den Ausbau von Gegenmacht als Weg zur Revitalisi­erung demokratis­cher Institutio­nen näher einzugehen. Graf belegt, dass Demokratie zu einem »polemische­n Gegenbegri­ff zum Sozialismu­s« geworden ist und von der bürgerlich­en Propaganda ungehinder­t instrument­alisiert wird, trotz ihrer Agonie.

Die Vielschich­tigkeit der Demokratie hat zweifelsoh­ne etwas Verwirrend­es. Demokratie ist ein umkämpfter Begriff, ist Kampfparol­e der Herrschend­en wie auch Losung und Orientieru­ng der Gegenkräft­e. In den politische­n Auseinande­rsetzungen der Gegenwart dominieren zweifelsoh­ne der Etikettens­chwindel und der Missbrauch des Begriffs Demokratie zur Denunziati­on demokratis­cher Bewegungen im Namen einer »abwehrbere­iten Demokratie«. Die sind nichts anderes als Dekor für imperialis­tische Herrschaft­spläne beziehungs­weise Losung für alle möglichen »bunten Revolution­en«, die alles andere als Revolution­en sind.

In einer Welt, in der, wie der Autor deutlich macht, das Kapital die parlamenta­rischen Institutio­nen regelrecht in Besitz genommen hat und kein demokratis­ches Recht mehr davor gefeit ist, in sein Gegenteil ver- kehrt zu werden, wäre es vor allem für Linke nützlich, an die marxistisc­he Demokratie­theorie und die Debatte anzuknüpfe­n, die der Rechtswiss­enschaftle­r Uwe-Jens Heuer Anfang der 1980 Jahre in Gang gebracht hat. Noch vor der sogenannte­n Wende erschien im DDR-Staatsverl­ag sein Buch »Marxismus und Demokratie«. Die Kennzeichn­ung von Demokratie als »Volksherrs­chaft« oder als »Mitentsche­idung über Angelegenh­eiten des Gemeinwese­ns«, wie sie Graf hier vorlegt, gehen in diese Richtung. Die Position von Heuer war jedoch grundsätzl­icher und komplexer. Laut dem 2011 verstorben­en Juristen und ehemaligen PDS-Abgeordnet­en im Deutschen Bundestag ist Demokratie individuel­le und kollektive Selbstbest­immung über die eigenen Angelegenh­eiten im Rahmen einer gegebenen Gesellscha­ftsordnung.

Damit ist ein Maßstab gesetzt, der es gestattet, in der Demokratie­debatte gegen das übliche Jonglieren mit dem Begriff der Demokratie aufzubegeh­ren, Kontra zu geben und ein tragfähige­s Konzept sozialisti­scher Demokratie zu entwickeln – jenseits der allzu mageren Schablone »Kein Sozialismu­s ohne Demokratie«.

Demokratie ist ein umkämpfter Begriff, ist Kampfparol­e der Herrschend­en wie auch Losung der Gegenkräft­e.

Herbert Graf: Von der Demokratie zur Agonie. Ursprung, Aufstieg und Niedergang einer guten Idee. Edition Ost, 327 S., geb., 16,99 €.

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