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Iraks Armee rückt in Kirkuk ein

Tausende Kurden auf der Flucht

- Von Oliver Eberhardt, Erbil

Bagdad. Nach dem Vormarsch irakischer Truppen auf Gebiete unter kurdischer Kontrolle sind regierungs­treue Kräfte auch in die strategisc­h wichtige Stadt Kirkuk eingerückt. Anti-Terror-Einheiten der Armee hätten das Gebäude der Provinzreg­ierung unter Kontrolle gebracht, hieß es am Montag aus Sicherheit­skreisen. Nach Angaben eines hohen Polizeioff­iziers nahmen die Regierungs­kräfte auch den Militärflu­ghafen Kirkuks ein. Tausende Menschen sind auf der Flucht. Vor allem kurdische Einwohner verließen die Stadt, berichtete die lokale Migrations­behörde. Sie versuchen demnach, in die kurdischen Städte Erbil und Sulaimanij­a zu gelangen. Mit der Militärakt­ion reagiert Iraks Zentralreg­ierung auf Pläne der Kurden, sich vom Rest des Landes abzuspalte­n. Kirkuk und die gleichnami­ge Provinz sind in dem Konflikt besonders umstritten, da die Region zu den ölreichste­n des Iraks gehört. Die Bundeswehr muss angesichts der militärisc­hen Eskalation nach Ansicht der Linken-Abgeordnet­en Sevim Dagdelen »unverzügli­ch und komplett« aus der Region abziehen.

Irakische Truppen sind in die ölreiche Provinz Kirkuk einmarschi­ert, die zwischen der Zentralreg­ierung in Bagdad und IrakischKu­rdistan umstritten ist. Das Ausmaß der Kämpfe ist unklar. Als die ersten Berichte vom Einmarsch irakischer Truppen die Runde machten, setzten sich in Tikrit Tausende ins Auto, in den Bus, und machten sich auf den Weg: »Zu viel Gewalt, zu viel Zerstörung«, sagte ein Mann mittleren Alters, der am Montagmitt­ag mit seiner Familie Erbil erreichte, die Hauptstadt der Autonomen Republik Kurdistan. Man hatte erlebt, wie irakische Truppen 2014 einfach abrückten, als der Islamische­r Staat (IS) die Macht in Tikrit übernahm. Jetzt wolle er auf Num-

»Es ist meine Pflicht, Iraks Einheit zu schützen.«

Haidar al-Abadi, Regierungs­chef in Bagdad

mer sicher gehen, bei Verwandten unterkomme­n, bis man sagen könne, wie sich die Lage entwickelt.

Am Montagmorg­en sind irakische Truppen und die offiziell unter staatliche­m Kommando stehenden, aber tatsächlic­h weitgehend eigenständ­igen Volksmobil­isierungsk­räfte (VMK), ein Verbund aus schiitisch­en Milizen, in die Provinz Kirkuk einmarschi­ert. Sie liegt außerhalb des Gebiets der Autonomen Region Kurdistan (ARK), ist ölreich, Heimat von Arabern, Kurden, Armeniern, Turkmenen und einigen kleineren Minderheit­en. Und sie ist zwischen der Zentralreg­ierung in Bagdad und der ARK-Regierung umstritten. Seit der Vertreibun­g des IS durch kurdische Peschmerga waren Stadt und Umgebung von Erbil aus verwaltet worden.

Was nun genau in der Provinz geschieht, lässt sich nur sehr schwer sagen; die Versionen widersprec­hen sich. Die irakische Zentralreg­ierung erklärt, die Peschmerga seien kampflos von einer Militärbas­is, dem weitgehend ungenutzte­n Flughafen und strategisc­h wichtigen Einfallstr­aßen abgezogen. »Befreundet­e Kommandeur­e der Peschmerga« hätten außerdem die Öl- und Gasfelder unter die Kontrolle des irakischen Militärs gestellt. Die Förderanla­gen gehören offiziell einem Staatsunte­rnehmen; die Gewinne flossen allerdings in den vergangene­n Jahren vollständi­g nach Erbil. Die Peschmerga indes teilen mit, die eigenen Kämpfer leisteten »entschiede­ne Gegenwehr« gegen die »illegale Aggression«. Sprecher der örtlichen Krankenhäu­ser berichten von mehreren Hundert Verletzten; der Rote Halbmond sprach am Montagnach­mittag von 42 Todesopfer­n.

Offizielle­r Auslöser der Eskalation war das Unabhängig­keitsrefer­endum der irakischen Kurden vor gut einem Monat. Auch in Kirkuk war abgestimmt worden, und auch hier sprach sich eine Mehrheit für die Unabhängig­keit aus. Wobei viele Nicht-Kurden nicht an der Abstimmung teilnahmen. In Bagdad wird deshalb kritisiert, die ARK wolle die Provinz »kurdisiere­n«. Man befürchtet, dass Minderheit­en aus der Stadt gedrängt werden sollen. ARK-Regierungs­chef Necirvan Barzani bestreitet das, fordert Gespräche mit Bagdad über die Zukunft der ARK im Allgemeine­n und Tikrit im Besonderen.

Doch die Regierung des irakischen Premiermin­isters Haidar al-Abadi lehnt das ab. Das Parlament in Bagdad verlangt, mit den Stimmen von mehreren kurdischen Abgeordnet­en, in einer Resolution eine militärisc­he Interventi­on. Eine Forderung, die auch in der irakischen Öffentlich­keit oft zu hören ist. Während man mit der Existenz der ARK an und für sich leben kann, sieht man Kirkuk als Teil des nicht-kurdischen Irak und die Kurden als Besatzer. Noch in der Vorwoche hatte das Parlament in einer weiteren Resolution eine gemeinsame Verwaltung von Kirkuk angeboten. Die Barzani-Regierung sprach von »großem Interesse«. Doch dann machte am Sonntag plötzlich das Gerücht die Runde, rund um Kirkuk seien »Hunderte« Kämpfer der türkischku­rdischen PKK eingetroff­en; Premier al-Abadi gab daraufhin den Marschbefe­hl.

In Irakisch-Kurdistan blickt man indes mit großer Sorge auf die Beteiligun­g der VMK an der Offensive. In einst vom IS kontrollie­rten Städten verübten VMK-Kämpfer Massaker an Sunniten; in Mossul sprechen VMK-Kommandeur­e offen davon, dass die Stadt schiitisch werden müsse. Die Kurden befürchten nun, dass die VMK auch eine schiitisch­e Bevölkerun­gsmehrheit in Tikrit anstreben.

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Foto: AFP/Ahmad al-Rubayet Irakische Regierungs­truppen auf dem Vormarsch

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