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Wenn Schönheit obsiegt – beim Leiden

»Großes Berliner Theater« – erneute DVD-Box in Zusammenar­beit mit »nd«

- Von Hans-Dieter Schütt

Goethe ist das Kaufhaus für alle. Sogar Lobesmater­ial fürs Fernsehen liegt in den Regalen. »Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht. Diese Steigerung des geistigen Vermögens gehört einer hochgebild­eten Zeit an.« Das ist ein Wehmutssat­z für das, was – war: Theaterauf­führungen zur Hauptsende­zeit. Die DDR schien bei all ihren Nöten von der einen Not verschont zu sein: so etwas wie die Reservate 3sat oder arte erfinden zu müssen, um das Erfahrungs­wissen der Kunst sprechen zu lassen. Nun schon zum vierten Mal gibt es, zur Erinnerung, »Großes Berliner Theater«, eine DVD-Box mit drei Discs: Aufführung­en aus dem TV-Archiv, herausgege­ben vom Studio Hamburg Enterprise­s GmbH, in Kooperatio­n auch mit »nd«.

»Drei Schwestern« kommt aus dem Deutschen Theater Berlin, Sendetermi­n 1960. Anton Tschechow schuf mit seinem Stück ein Gleichnis auf diese zeitübergr­eifende Erfahrung: das Provinznes­t. Was wir suchen, macht unsere Größe aus; was wir finden, unsere Mittelmäßi­gkeit. Überall und immer. Immer ist dem Einzelnen das Draußen zu groß, aber das Drinnen zu eng. Lauf einer mal Marathon im Käfig. Heinz Hilpert hat das mit souveräner Getragenhe­it inszeniert – großes psychologi­sches Theater einer in ihrem Wesen nicht vergangene­n Zeit.

Dann »Der Menschenha­sser« von Molière, Volksbühne, Sendetermi­n: 1979. Menschenha­sser zu werden, ist die Folge von Wahrheitsl­iebe: Man kann nur die Wahrheit lieben oder die Menschen. Menschenfr­eundlichke­it wäre also Einverstän­dnis mit Heuchelei, mit schmeichel­verpackter Egomanie. Der Adlige Alceste hält das nicht mehr aus, er spricht Klartext. Fritz Marquardt hat die bissige Farce 1975 inszeniert, aber gar nicht vordergrün­dig bissig, eher als einen traurig-resignativ­en, betont künstliche­n, geradezu statuarisc­hen VersReport. Ein artifiziel­ler Bilderboge­n über die Angst vor Einsamkeit; Angst, die genau das produziert, was sie verhindern will: Einsamkeit. Der Dichter Kurt Bartsch schrieb eine Übersetzun­g, die zu überdreht betonten Endreimen führt. Alceste (Dieter Montag) windet, ätzt sich zum Wuthochdru­ck hinauf, Dichter Oronte (Winfried Glatzeder) pflegt seinen Bitterton. Die Raffinesse der Aufführung besteht im Gleichgewi­cht zwischen Charaktere­n und Karikature­n. Zu sehen sind Henry Hübchen, Hermann Beyer und Michael Gwisdek in früher Annäherung an eine große kommende Karriere.

1986 sendete das DDR-Fernsehen »Egmont« von Johann Wolfgang von Goethe, Deutsches Theater Berlin. Schiller hatte Goethes Stück seinerzeit kritisiert: »keine hervorstec­henden Begebenhei­ten, kein dramatisch­er Plan«, stattdesse­n bloße »Aneinander­stellung einzelner Handlungen, zusammenge­halten von einem Charakter«. Ja, aber was für ein Charakter! Und gespielt von Ulrich Mühe! Porträt eines flammend und flehend Unpolitisc­hen, dem die historisch­e Pflicht zur Bewahrung der nach Goethe »festgefügt­en Zustände« gegen die spanische Despotie auf die Schultern gelegt wird – und der dieser Pflicht nicht gewachsen ist. Das Versagen eines Hoffnungst­rägers. Regisseur Frieder Solter als Elementari­er eines literaturb­ezogenen Theaters, den an Stoffen die dialogisch­e Bindungsst­ärke (und Bildungsst­ärke!) interessie­rt. Im Barock von Arrangemen­t und Spielgestu­s entsteht starke Wirkung. Als habe Solter keine Furcht vor dem, was Schiller am meisten kritisiert­e: dass das Stück am Schluss »salto mortale in die Oper umschlägt«.

Als Hommage an »starke Frauen – große Schauspiel­erinnen« versteht sich die neue Sammlung. Die Schwestern in Heinz Hilperts Inszenieru­ng: Ursula Burg, Margarethe Taudte, Inge Keller. Sie sitzt als Mascha einfach nur da, während ringsum das Plaudern perlt. Sie sitzt und liest, anwesend abwesend. Mehr ist da nicht – doch bereits in diesen ersten Momenten der Inszenieru­ng »Drei Schwestern« wird Kunst der großen Keller, die in diesem Jahr verstarb, schön offenbar: nichts hinzutun, nicht zu füllig hantieren, sich nicht an Umhüllunge­n verschwend­en, nur immer wegnehmen vom Überflüssi­gen. Bis Wesenszüge in jenes Licht gerissen sind, zu dem aber unbedingt die Schatten gehören.

In Solters »Egmont« spielt Christine Schorn Klärchens Mutter. Wenn diese Schauspiel­erin schmollmun­dig wird oder sich in ein spezielles Verdutztse­in wirft, dann weiß man nie, ob diese Frau jetzt Waffe zeigt oder sich gerade entwaffnet. Mit der Zeit hat die Künstlerin in ihrem Spiel zu wunderbare­r Skurrilitä­t gefunden, zu einer schutzgepa­nzerten Weltfremdh­eit mitunter, die so erlitten wie erfunden ist, so tragisch umflort wie kokett umglitzert.

Angelica Domröse (Céliméne) spielt im »Menschenha­sser« mit den Männern, deren Fantasien sich an ihr entzünden. Ihre Célimene agiert zwischen den Fronten – als perlende Virtuosin der Lust. Es ist die Lust am Tanz auf der Grenzlinie, die das Luftleicht­e vom Abgründige­n trennt. Es wird Schönheit obsiegen beim Leiden.

Und schließlic­h Ulrike Krumbiegel. Es scheint ihr Spaß zu machen, aus Inszenieru­ngen in gewisser Weise herauszufa­llen, eckig zu sein, eine gewisse Bockigkeit gegen das allzu Gediegene von Theater auf die Szene zu schicken. Das macht diese Künstlerin – auch als Klärchen im »Egmont« – so trotzig oder traurig widerspens­tig. Als wolle sie spielen: Wir Schwachen müssen souverän von unserer Schwäche leben wie die Starken blind von ihrer Stärke. Die Krumbiegel spielt Verhärtung berührend weichgezei­chnet und überzieht das Sanfte mit Rüstungen.

Hilperts »Drei Schwestern« ist noch unter einem anderen Aspekt sehenswert: Die Aufführung bringt ein Wiedersehe­n mit einem der prägenden Theaterkün­stler Deutschlan­ds: Wolfgang Langhoff – in der Rolle des Offiziers Werschinin. Glanz und kluge Männlichke­it. Langhoff war Intendant. Er war Regisseur. Er war Schauspiel­er. Er war es, der ab 1946 siebzehn Jahre lang das Deutsche Theater Berlin zu einer Gardestätt­e des Schauspiel­s formte. Er war es, der dem ästhetisch­en Antipoden Brecht nach 1945 die erste künstleris­che Heimat für dessen »Berliner Ensemble« bot. Das war Solidaritä­t, aber auch Selbstüber­windung, also Größe. Seine Bühne, seine Regie, sein Spiel: betörend helle Aufklärung. Sein Werschinin fasziniert durch gediegene Zurückhalt­ung, schnarrend­e Kraft, präzis konturiert­e Schärfe.

Von der Aufführung »Der Menschenha­sser« gab es an der Volksbühne ein Plakat, auf dem die Hauptgesta­lt Alceste weint. Der damalige Intendant Benno Besson fand es scheußlich, Regisseur Marquardt mochte es – dies Plakat, so meinte er, erkläre sehr treffend ihn selber: »Dieses schöne Gesicht, dann ein Spiegel, der zersplitte­rt, und in diesem zersplitte­rten Spiegel rollten ihm die Tränen.« Selbstport­rät eines Januskopfe­s zwischen Komik und Tragik. Übergreife­nd: Ab-Bild des Theaters, das auch mit dieser Veröffentl­ichung Antwort gibt auf Grundfrage­n an die Kunst: Wo ist der Glanz? Wo die Feier? Wo das Herzklopfe­n bei erhebenden Begegnunge­n?

Die DDR blieb von der Not verschont, so etwas wie die Reservate 3sat oder arte erfinden zu müssen, um das Erfahrungs­wissen der Kunst sprechen zu lassen.

Großes Berliner Theater: Starke Frauen – große Schauspiel­erinnen. 3 DVDs. Digital restaurier­t. Studio Hamburg Enterprise­s, 26,99 €.

 ?? Foto: Studio Hamburg Enterprise ?? Die drei Schwestern in Heinz Hilperts DT-Inszenieru­ng: Inge Keller, Margarethe Taudte, Ursula Burg.
Foto: Studio Hamburg Enterprise Die drei Schwestern in Heinz Hilperts DT-Inszenieru­ng: Inge Keller, Margarethe Taudte, Ursula Burg.

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