Interpretationshilfe
Zu »Der Blutkreis-Lauf«, 26.09., S. 16
Als vor Jahren die Nachrichten von den blutigen Auseinandersetzungen in Berg Karabach und anderen Kaukasus-Regionen kamen, ging es mir immer wieder durch den Kopf, wie hellsichtig Bertolt Brecht war, als er am Ende des Zweiten Weltkrieges seinen »Kaukasischen Kreidekreis« schrieb. Und ich hätte mir gewünscht, dieses Stück wieder einmal auf der Bühne zu sehen. Nun ist es soweit - und dann noch am Anfang einer neuen Ära im BE. Tolle Idee!
Nun höre ich im »Deutschlandfunk«, dass der aktuelle Regisseur auf das »antikapitalistische« Vorspiel« verzichtet hat. Okay, denke ich, was der Regisseur tut, ist seine Sache, aber hier hat jemand keine Ahnung von dem Stück, denn das »Vorspiel« ist eigentlich eine Rahmenhandlung, die die KreidekreisGeschichte als Metapher für einen viel größeren Konflikt verdeutlicht. Und dann die Rezension im »nd«. Hier bekomme ich als Interpretationshilfe sogar mitgeliefert, warum es richtig war, auf das »Vorspiel« zu verzichten. Regisseur Thalheimer brauche keine »kollektivistische Pädagogik« und keine »Erlösungsliteratur«. Das ist genau die Sprache, mit der Brecht bis in die 1960er Jahre hinein im Westen bekämpft wurde. (Mit dem Hinweis »wir wollen keine Erlösungsliteratur« könnte man auch den »Faust« auf die Gretchen-Tragödie reduzieren und den Wilhelm Tell auf einen Vater-SohnKonflikt.)
Richtig, 1954 erschien im »nd« keine Rezension zur Premiere des »Kaukasischen Kreidekreis«. Das hatte aber nichts mit dem Stück selbst zu tun, sondern war ein weiterer Ausdruck der unsäglichen Formalismusdebatte in der DDR-Kulturpolitik. Nach ein paar Monaten versuchte das »nd«, diese Scharte auszuwetzen, als es ausführlich über den Riesenerfolg des Stückes bei einem Gastspiel in Paris berichtete. Aus heutiger Sicht stellt sich die Frage: Was ist keine Rezension im »nd« gegen eine, die an die Brecht-Schelte des Kalten Krieges erinnert? Übrigens: Der »Kaukasische Kreidekreis« wurde bis 1958 am BE 175mal gespielt. Schau'mer mal! J. Nölte, Woltersdorf