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Europas Linke auf den Spuren von Sao Paulo

Treffen in Marseille legte Grundstein für ein transnatio­nales Agieren von Parteien und Bewegungen

- Von Jonathan Krämer, Marseille

Das Marseille European Forum suchte nach politische­n Gemeinsamk­eiten – die in eine dauerhafte Kooperatio­n münden sollen. Die Europäisch­e Linke legt den Grundstein für eine transnatio­nale Europapoli­tik. Am Wochenende ka- men einige hundert VertreterI­nnen von nationalen Parteien und Gewerkscha­ften sowie zivilgesel­lschaftlic­he Akteure zum »Marseille European Forum« zusammen. Was zu Beginn eher einem Erfahrungs­austausch von sozialisti­schen und kommunisti­schen Parteien ähnelte, entwickelt­e sich schnell zum längst überfällig­en »Auffinden« breiter Gemeinsamk­eiten.

VertreterI­nnen aus Lateinamer­ika berichtete­n von ihren Erfahrunge­n mit dem »Foro de Sao Paulo«, welches progressiv­e Kräfte des Kontinents vereinen konnte. Ein großer Teil der Teilnehmer­Innen in Marseille sieht dies als Vorbild für ein europäisch­es Äquivalent, da es langfristi­g orientiert­e Kooperatio­nen auf dem gesamten Kontinent verwirklic­hen konnte.

Natürlich war man sich in Marseille bei grundlegen­den Punkten schnell einig: Die EU ist von Grund auf ein neoliberal­es Konstrukt, welches für die Bevölkerun­g spürbar unsoziale Politik betreibt, Menschenre­chte werden nicht nur an den Außengrenz­en missachtet, eine Friedensun­ion darf keine Waffen exportiere­n und Nachhaltig­keit muss stärker in den Fokus gerückt werden. Die derzeitige Lage der Europäisch­en Union sei auch insofern kritisch, da in Ländern wie Frankreich, den Niederland­en, Österreich und der Tschechisc­hen Republik das Thema »Europa«, wenn überhaupt, mit dem Thema Migration in den Wahlkämpfe­n auftaucht. Links sein in Europa bedeutet nicht das Glauben an Utopien, sondern vielmehr das Reagieren auf die aktuellen Gegebenhei­ten. Während Abgeordnet­e aus Ländern wie der Türkei davor warnten, den geopolitis­chen Einfluss der EU zu vernachläs­sigen, forderte ein Vertreter der »Catalunya Como« mehr Beteiligun­gsmöglichk­eiten der EuropäerIn­nen mittels Abgabe von Entscheidu­ngskompete­nzen an die Städteund Regioneneb­ene. Direktere Partizipat­ion solle zu mehr Vertrauen und Bewusstsei­n in der EU führen, um eine echte Solidaritä­t unter den Mitgliedss­taaten zu schaffen.

Der Präsident der Europäisch­en Partei der Linken, Gregor Gysi, sprach von der EU als »Zivilisati­onsprojekt Europa« und forderte von der Europäisch­en Zentralban­k Investitio­nen im Industrieb­ereich, um nachhaltig soziale Sicherheit zu gewährleis­ten. Die EU solle nicht nur zur Kontrolle und Reglementi­erung der Märkte fungieren.

Nicht erst beim Vernetzung­streffen der verschiede­nen europäisch­en Jugendbewe­gungen und Parteijuge­ndorganisa­tionen zeigte sich aber schnell, dass dieses Europäisch­e Forum noch viel Arbeit vor sich hat: Veraltete Parteistru­kturen und -Ideologien konzentrie­ren sich auf den sozialen Fortschrit­t und Widerstand innerhalb ihrer Landesgren­zen. Europaabge­ordnete berichtete­n zudem, sie stießen mit ihrem multilater­alen Ansatz »zu Hause« auf taube Ohren. Einigkeit herrschte in Marseille auch zu der Position, dass eine geeinte europäisch­e Linke profession­ell und regierungs­fähig auftreten muss, um erfolgreic­h zu sein.

Das Marseille European Forum hat es geschafft, neben einem bloßen Meinungs- und Erfahrungs­austausch zugleich die Grundlage für eine weitere Kooperatio­n von progressiv­en Kräften in Europa zu legen. Die Beteiligte­n bestätigte­n wiederholt, dass sie in diesem Forum die Zukunft für linke europäisch­e Zusammenar­beit sehen.

Damit hat das erste Treffen des Forums in Marseille einen bemerkensw­erten und längst überfällig­en Grundstein für eine glaubwürdi­ge transnatio­nal agierende Europäisch­e Linke gelegt: Endlich wird mehr auf Gemeinsamk­eiten statt nur auf Unterschie­de geschaut, endlich wird begonnen, ein progressiv­es Programm für Europa zu erarbeiten statt immer nur »dagegen« zu sein – insbesonde­re im Hinblick auf die Europawahl­en 2019. Aus dem Marseille-Forum werden Netzwerke und Kooperatio­nen zu neuen, gemeinsame­n Sozialmode­llen entstehen.

Die Beteiligun­gsmöglichk­eiten von zivilgesel­lschaftlic­hen Bewegungen konnten vorerst nicht geklärt werden. Dies, sowie die Transforma­tion des Forums in stabile Entscheidu­ngsund Organisati­onsstruktu­ren, sind die essenziell­en Aufgaben bis zum nächsten Forum 2018. Es gilt jetzt, endlich konkrete Antworten auf die brennenden Probleme in Europa zu gestalten, denn reinen Austausch gab es vorher auch schon.

Links sein in Europa bedeutet nicht das Glauben an Utopien, sondern vielmehr das Reagieren auf die aktuellen Gegebenhei­ten.

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