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»Moria ist nicht für den Winter geeignet«

Barbara Lochbihler, Vizepräsid­entin des Menschenre­chtsaussch­usses im EU-Parlament, über die Lage auf Lesbos

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Pro Asyl hat davor gewarnt, dass tausende Flüchtling­e in den griechisch­en Hotspots dem Wintereinb­ruch schutzlos ausgeliefe­rt sind. Sie waren gerade vor Ort: Können Sie diese Einschätzu­ng bestätigen? Ich war in dem Lager Moria auf Lesbos, habe dort mit dem Direktor gesprochen und auch mit dem griechisch­en Migrations­minister Ioannis Mouzalas. Ich habe mit NGOs geredet und ja, der Hotspot Moria ist nicht für den Winter geeignet, weil er total überfüllt ist. Vorgestern, als ich dort war, lebten dort mehr als 6500 Personen. Das Lager ist für circa 2000 Menschen angelegt; über 1500 haben nur Sommerzelt­e. Der Direktor sagt, dass am Tag ungefähr 200 Neuzugänge kommen. Ich habe mit einer Ärztin geredet, die berichtete, dass von den Neuzugänge­n fast 40 Prozent Kinder sind. Mitarbeite­r der NGOs sind reihum erschöpft und vergleiche­n die Situation teilweise mit Lagern in Kriegsgebi­eten: Völlig verdreckt, zu wenig Duschen und Toiletten, es wurden teilweise für die Nacht Windeln an Frauen ausgegeben, weil unter dem Druck die Stimmung sehr aggressiv ist.

Können Sie sagen, wie viele Flüchtling­e sich insgesamt auf dem Inseln befinden?

Nach den letzten Zahlen der Regierung sind es rund 15 000.

Sie sagen, es gibt viele Neuzugänge auf Lesbos. Nun gibt ja jetzt seit einiger Zeit das Flüchtling­sabkommen zwischen der Türkei und der EU. Kommen dennoch Flüchtling­e aus der Türkei an?

Ja – zur Zeit gibt es 200 bis 300 Neuankömml­inge auf Lesbos. Es ist anzunehmen, dass sie aus der Türkei kommen.

Sie haben sich auch mit dem Migrations­minister der griechisch­en Regierung getroffen. Würden Sie sagen, dass da schwere Versäumnis­se seitens der griechisch­en Regierung vorliegen, oder wer trägt eigentlich die Verantwort­ung für diese desolate Situation?

Ich spreche jetzt nur über die Situation in dem Lager Moria: Diesbezügl­ich sagte mir der Minister, sie hätten sehr wohl für den Winter geplant. Aber der Zeitdruck und die seit Herbst steigende Zahl der Neuzugänge habe es ihnen erschwert, rechtzeiti­g zu reagieren. Da denke ich schon, man hätte mit einer besseren Administra­tion mehr machen können. Winter ist schließlic­h jedes Jahr. Wichtig ist aber auch zu fragen: Warum sind viele so lange in diesen Lagern? Eingericht­et sind die dafür, dass man vielleicht einige Wochen bleibt. Alleinreis­ende Männer aber leben, laut dem Direktor von Moria, teilweise bis zu 18 Monaten dort.

Warum geht es nicht schneller? Das scheint sowohl von europäisch­er wie von griechisch­er Seite nicht unbedingt gewollt zu sein.

Wie meinen Sie das?

Die Haltung ist wohl: Wenn es den Menschen in den Lagern zu gut geht, dann würde das ein Anreiz sein, dass weitere kommen.

Das heißt, es ist auch ein Stück weit kalkuliert, dass die Zustände desolat sind, um andere Flüchtling­e abzuschrec­ken?

Ich würde nicht sagen, dass kalkuliert wird, dass jemand an Kälte stirbt. Das nicht. Aber eine gewisse Abschre- ckung soll es geben, das hat der EUKommissa­r Frans Timmermann­s selbst gesagt in einem Interview, das er der Zeitung »Kathimerin­i« gegeben hat. Auf Lesbos war ich aber auch in einem Lager, das von der Gemeinde geführt wird, das ist für 1000 Menschen angelegt, die Kinder haben oder krank sind. Das wird sehr gut geführt.

Das heißt, dass es besser ginge? Ja, natürlich ginge es besser.

Wie gehen denn die Inselbewoh­ner mit der Situation um? Ich kann mich jetzt nur auf Lesbos beziehen. Die Infrastruk­tur auf der Insel, zum Beispiel Krankenver­sorgung, ist längst an der Kapazitäts­grenze. Da sollte man die Infrastruk­tur verbessern, davon hätten sowohl die lokalen Einwohner als auch die Flüchtling­e etwas.

In Einzelfäll­en gibt es Streit – wie überall – und es werden Fragen gestellt: Wie wird sich das auf das Image unserer Insel auswirken? Das ist hörbar. Gleichzeit­ig ist auch hörbar, von Hotelbesit­zern zum Beispiel, dass es noch nie so eine gute Auslastung über das ganze Jahr hinweg gab, weil die

Barbara Lochbihler ist Mitglied des Europäisch­en Parlaments und gehört der Fraktion Die Grünen/Europäisch­e Freie Allianz an. Sie ist Vizepräsid­entin des Menschrech­tsausschus­ses und hat vom vergangene­n Donnerstag bis Sonntag Athen und Lesbos besucht. Mit ihr sprach für »nd« Nelli Tügel. Leute von Frontex, vom Europäisch­en Unterstütz­ungsbüro für Asylfragen (EASO), von den NGOs und viele Journalist­en kommen.

Zusammenfa­ssend würde ich sagen: Es gibt ein verbreitet­es Gefühl, alleingela­ssen zu werden.

Sie haben auch Menschen besucht, die in Athen für einen rascheren Familienna­chzug mit in Deutschlan­d lebenden Flüchtling­en protestier­en. Wenn Deutschlan­d hier schneller handeln würde, würde das die Situation dann auf den Inseln verbessern?

Der Stand vor ein paar Wochen war, dass viereinhal­btausend Menschen nach dem Dublin III-Verfahren – darunter 3000 Kinder, meistens aus Syrien, aber auch Afghanista­n und dem Irak – das Recht haben, zu ihrer Kernfamili­e nach Deutschlan­d zu kommen. Die deutschen Behörden arbeiten aber langsam, so dass das Verwaltung­sgericht in Wiesbaden kürzlich noch mal entschiede­n hat, dass das BAMF eine First von sechs Monaten unbedingt einhalten muss. Es kursiert ein Brief des griechisch­en Ministers an den deutschen Innenminis­ter, mit der Zusage, auf deutschen Wunsch hin die Überstellu­ngen auf 70 Personen im Monat zu begrenzen. Das hat das deutsche Innenminis­terium gleich dementiert und gesagt, es gebe keine Absprachen. Aber die Fakten zeigen, der Nachzug hat sich enorm verlangsam­t. Das Urteil des Gerichts aus Wiesbaden hat das ja noch mal untermauer­t.

Was muss denn Ihrer Ansicht nach geschehen, damit sich die Situation, beispielsw­eise in dem Lager auf Lesbos, das Sie besucht haben, schnell aber auch nachhaltig verbessert?

Es ist absolut notwendig, für jeden, der dort ankommt, eine gemauerte Unterkunft zu finden, sei es in Lesbos oder auf dem Festland. Und die räumliche Beschränku­ng auf die Inseln müsste aufgegeben werden. Jetzt ist es so: Die Flüchtling­e können nicht zur Entlastung der Inseln auf dem Festland untergebra­cht werden. So entstehen riesige Lager. Die Beschränku­ng auf die Inseln will die Europäisch­e Kommission beibehalte­n, das hat Timmermann­s in besagtem Interview sehr deutlich gesagt.

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Foto: AFP/Louise Gouliamak Seit dem 1. November hungerstre­iken Flüchtling­e in Athen für rascheren Familienna­chzug.
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Foto: dpa/Karlheinz Schindler

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