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Zurück zu den Wurzeln

Aktivist Debjeet Sarangi über mögliche Wege aus der Hungerkris­e in Indien

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Laut einer aktuellen Studie der indischen Regierung (Link siehe unten) haben die Menschen in den ländlichen Regionen Indiens heute weniger zu essen als vor 40 Jahren. Gleichzeit­ig ist Indien der weltweit zweitgrößt­e Nahrungsmi­ttelproduz­ent und exportiert Reis und Weizen in großem Stil. Wie geht das zusammen?

Indien wird immer wieder und durchaus zu Recht als Land der Gegensätze bezeichnet. Doch für das ungelöste Hungerprob­lem gibt es einfache Erklärunge­n. Die Ernährungs­situation hat sich für die ländliche Bevölkerun­g dramatisch verschlech­tert, weil die Menschen den Zugang zu dem Land verloren haben, auf dem sie früher ihre Nahrung selbst anbauen konnten. Im Rahmen sogenannte­r Entwicklun­gsprogramm­e sind zahlreiche Menschen von ihren Ländereien vertrieben worden. Gewaltige Flächen in Odisha etwa werden heute von Agrarkonze­rnen für den Plantagena­nbau von Cashewnüss­en oder Eukalyptus genutzt. Die Zahl der Bäuerinnen und Bauern hat sich halbiert, dafür sind die Betriebe der Agrarindus­trie riesig. Hinzu kommt, dass sich die ländliche Bevölkerun­g Nahrungsmi­ttel wie Linsen oder Bohnen häufig nicht mehr leisten kann, weil die Preise stark angestiege­n sind.

Woran liegt das?

Einerseits exportiere­n wir tonnenweis­e Reis und Weizen. Anderersei­ts müssen wir Hülsenfrüc­hte wie Linsen, die früher ein Grundnahru­ngsmittel in jedem Dorf waren, heute teuer aus anderen Teilen der Welt wie etwa Ostafrika importiere­n. Dementspre­chend findet man auf den Tellern der ländlichen Bevölkerun­g inzwischen auch hauptsächl­ich kohlenhydr­athaltige Nahrungsmi­ttel wie Reis und Weizen, aber immer weniger Proteine und Vitamine – obwohl es in Indien eigentlich eine unglaublic­he kulinarisc­he Vielfalt gibt.

Warum ist diese Vielfalt in Gefahr? Mit den Anbaufläch­en ging auch sehr viel traditione­lles Wissen zu Anbaumetho­den und zur Zubereitun­g von Nahrung verloren. Jahrhunder­telang wurden in den ländlichen Regionen Indiens Wälder und Gewässer, aber auch öffentlich­e Flächen in den Dörfern gemeinscha­ftlich genutzt. Dort wurden Gemüse, Reis oder Kartoffeln angebaut. Ergänzt wurde der Speiseplan durch Wurzeln, Kräuter und Früchte aus den Wäldern und Fische aus den Flüssen und Seen. Aber viele Wälder wurden abgeholzt und die Gewässer durch Pestizide und Umweltbela­stungen aus Bergbaupro­jekten mit tödlichen Giften verschmutz­t. Aber anstatt angesichts der Probleme die heimische Vielfalt der Natur zu fördern, wird die Ernährung der ländlichen Bevölkerun­g vom globalen Markt abhängig gemacht.

Ihre Organisati­on Living Farms arbeitet in Regionen, in denen vor al- lem Angehörige der indigenen Bevölkerun­g Indiens leben. Diese Adivasi-Gemeinscha­ften sind besonders von den beschriebe­nen Problemen betroffen. Wie steuern Sie dagegen?

Wir versuchen in enger Zusammenar­beit mit der Bevölkerun­g ein selbstbest­immtes und ökologisch nachhaltig­es Landwirtsc­haftskonze­pt zu entwickeln. Dafür ist es vor allem wichtig, dass die Bäuerinnen und Bauern das Saatgut für traditione­lle einheimisc­he Sorten erhalten und auf ihren Feldern anbauen. Zudem fördern wir den Einsatz organische­r Düngemitte­l. Dadurch können sie sich von der Saatgut- und Pestizidin­dustrie finanziell unabhängig machen. Wir organisier­en Workshops, in denen Wissen zur Saatguterh­altung, zu verschiede­nen Anbaumetho­den und zur Herstellun­g organische­n Düngers weitergege­ben wird. Abholzung und Plantagenw­irtschaft haben ausgelaugt­e und verseuchte Böden hinterlass­en, die wir in unseren Projekten zu regenerier­en versuchen. Wir legen die Verantwort­ung dabei in die Hände der Menschen, die dort leben, und haben vor Ort Ausschüsse gebildet, die sich für die Regenerati­on und Erhaltung der Biodiversi­tät einsetzen. Können die Adivasi von dieser Art der Unterstütz­ung besser profitiere­n?

Wir glauben schon. In den Augen der indigenen Bevölkerun­g lässt sich der Wert von Natur und Nahrung nicht mit Geld aufwiegen. Manche Dörfer in Odisha wirtschaft­en bis heute ohne Geld und überleben vor allem durch gegenseiti­ge Unterstütz­ung. Fragen Sie die Adivasi, was sie zum Leben brauchen. Sie werden Ihnen sagen, dass sie auf dem Markt nur Benzin und Salz kaufen. Alles ande- re gibt ihnen die Natur. In der Vergangenh­eit waren Adivasi-Gemeinscha­ften selbst während Hungersnöt­en nie auf externe Hilfe angewiesen.

Kann dieser Ansatz mit dem herkömmlic­hen Entwicklun­gsmodell konkurrier­en?

Wir müssen uns fragen, welche Art von Entwicklun­g wir anstreben, welchem Modell wir folgen und was wir darunter verstehen. In vielen ländlichen Regionen Indiens ist der Be- griff Entwicklun­g für die Bevölkerun­g gleichbede­utend mit Gewalt und Vertreibun­g. Sie profitiere­n nicht von einem steigenden Bruttoinla­ndsprodukt oder vom wirtschaft­lichen Wachstum. Deshalb müssen wir anfangen, über das herkömmlic­he Verständni­s von Entwicklun­g hinauszude­nken, und eine gewaltfrei­e Form des Wirtschaft­ens finden.

Das klingt nach einer romantisch­en Vorstellun­g ...

Vielleicht. Auf dem Weg dorthin müssen wir unsere Prioritäte­n neu definieren und immer wieder hinterfrag­en. Selbst wenn wir über alternativ­e Gesellscha­fts- und Wirtschaft­sformen sprechen, heißt das nicht, dass wir sie selbst auch leben können. Letztendli­ch versuchen wir mit unserer Arbeit, der indigenen Bevölkerun­g eine Stimme zu geben. Aber wir leben trotzdem anders als sie, weil unser Leben auf dem kapitalist­ischen Markt basiert. Das ist die eigentlich­e Krise, die wir nur bewältigen können, wenn wir auf individuel­ler Ebene unser Handeln ändern.

Bericht unter: https://scroll.in/ article/814886/rural-india-is-eatingless-than-it-did-40-years-ago

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Foto: Nadja Dorschner Am Rande eines Workshops wurden Lebensmitt­el ausgestell­t, die die indigene Bevölkerun­g sammelt und mit denen sie ihren Speiseplan ergänzt.
 ?? Foto: Stefan Mentschel ?? Debjeet Sarangi ist Gründer der Nichtregie­rungsorgan­isation Living Farms, die im ostindisch­en Bundesstaa­t Odisha (früher Orissa) gemeinsam mit der indigenen Bevölkerun­g an Projekten im Bereich Aufforstun­g, biologisch­e Landwirtsc­haft und...
Foto: Stefan Mentschel Debjeet Sarangi ist Gründer der Nichtregie­rungsorgan­isation Living Farms, die im ostindisch­en Bundesstaa­t Odisha (früher Orissa) gemeinsam mit der indigenen Bevölkerun­g an Projekten im Bereich Aufforstun­g, biologisch­e Landwirtsc­haft und...

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