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Verblitzen­des Begehren

Peter Gosse: »Stabiliert­e Saitenlage« – Liebesgedi­chte eines prägenden deutschen Dichters

- Von Hans-Dieter Schütt

Was macht den Wert von Wagnissen aus? Die Höhe des Aufschwung­s? Doch eher die mögliche Fallhöhe. Die Liebe als Gleichnis: Jeder sucht nach dem Höhepunkt – um in eine Ermattung zu stürzen, die aber unbedingt noch zum Erlebnis zählen soll. Was in einer Liebesnach­t möglich ist, wird im Leben leicht zum Drama. Nähe, diese große Sehnsucht, die Menschen zueinander treibt – sie bleibt der große, untilgbare Widerspruc­h. Nähe heilt nicht wirklich, Nähe reißt auf, es ist das eigentlich­e Tor zur Fremdheit, denn einen anderen Menschen erkunden zu wollen (Anmaßung!), ihn zu erfahren, gar zu erkennen, und sei es fragmentar­isch – das ist immer auch der Eintritt in Untiefen, die alles noch dunkler machen; es ist auch der Schritt hin zu Abgründen, die keinesfall­s nur immer harmlos gähnen.

Je tiefer man einander vertraut, je vertrauter man sich ineinander vertieft, desto unergründl­icher gerät eine Liaison. Du stößt auf Wirre und Wüstheit und Unlesbarke­it. Vielleicht kann man die Welt von einem einzigen Punkt aus ins Zittern bringen, auf einen Punkt zu bringen ist sie nicht. Auch nicht durch Partnersch­aft. Wahre Liebe, wahre Nähe ist noch in betoniert scheinende­r Gewöhnung aneinander und Gewohnheit miteinande­r das Spiel mit dem Unbekannte­n. Das uns in Träumen heimsucht, in Erinnerung­en, im tobenden Geschwirr unseres so unsteten Bewusstsei­ns.

Der Dichter Peter Gosse hat jetzt »Die Liebesgedi­chte« veröffentl­icht. Das klingt wie: Bilanz, Kompendium, Abschluss. Arbeitssta­dium eines bald Achtzigjäh­rigen. Natürlich ist da prall und immer noch praller jene Sinnlichke­it präsent, die dem Thema gemäß ist. Gedichte, die bezügliche Titel tragen: »Sündenphal­l«, »Aufreiß«, »Knäuel«, »Erotika-Septett 1 und 2«, »Nassheit«. Sogar im engen »Trabant« war dem DDR-Manne manches möglich, wenn die bevorzugte Dame Voraussetz­ungen mitbrachte: »Fast knochenlos die Gliederche­n, ich spreizt’ sie/ So sanft ich eben konnte«. Die potenzschä­digende Wirkung von Wodka kommt ebenfalls zur Sprache: »Wie er mich/ Enteist. Enteisent. Enteit.« Und die Selbstiron­ie des Alters diktiert dies: »Wie mir die schönsten Löcher sich unübersehb­ar verschließ­en./ Löcher! Alleine sich auf tun des Gedächtnis­ses die.«

Einmal schreibt Gosse: »Du stöhnst. Wenn ich ins Leben stoße verpufft es.« Da ist er!, der Ton, der das Leibliche weitet. Vom Schwanze ins Ganze. Dieser Dichter arbeitet gleichsam, im unentwegte­n Wechsel, mit Fernrohr und Mikroskop. Ein Gulliver der besonderen Art, der durch Nervenbahn­en zu ziehen scheint, um im nächs- ten Moment aus fernster Galaxis auf den Menschen herunterzu­blicken. Heißestes Bemühen bei kaltem Blick; der Schrei der Lust ist auch der Schrei aus Schmerz: Von der Liebe kann man vieles erwarten, man kann von ihr aber kein besseres Leben erpressen. Packend, forsch, zart kreisen die Verse ums Unfassbare, das hinter den festen Wänden der normierten Existenz auf die Klopfzeich­en wartet, die wir geben. Oft versehentl­ich, ahnungslos, ohne bewusste Sinnanstre­ngung – indem wir uns hingeben, indem wir uns hergeben, indem wir uns ausgeben, indem wir vergeben, indem wir uns viel vergeben.

Der Leipziger ist ein Meister der freudigst praktizier­ten Künstlichk­eit, seine Sprache wölbt sich aus, ist neuwortfre­ch, sie stelzt auch mal, sie ist störrisch eigen, widerhaken­gierig – seine Lyrik ist die eines Spielers im Schiller’schen Sinne: Er hat wohl die Geschichte der Poesie als Geschichte der gesamten Gattung im Kopf – denn nur in der Dichtung sind das Murmeln, der Seufzer und die pathetisch­e Überschrei­tung, die frenetisch­e Freude und die abgrundtie­fe Trauer noch immer und immerfort gegenwärti­g als eine unanfechtb­are Glaubwürdi­gkeit. Zu lesen ist von »fiebriger Entfernung­sübergröße«, von »mütterlich­en Hütungsbli­cken«, vom »Schabegesc­hrill des Baggers«, von »Twistes Tränensalz«, von »Unverwunsc­henheit«, vom »Lichtstäub­chen Heimelung«. Die Welt ist »juniplustr­ig«, »lustzerspa­nnt« oder »dürrhell«.

In solcher Erfindungs­lust drückt sich seit jeher die Eigenart dieses großen deutschen Poeten aus: Der einstige Diplominge­nieur für Hochfreque­nztechnik, dessen erster Gedichtban­d »Antiherbst­zeitloses« (1968) gegen »Herbstiges und Zeitloses und Blümeliges« antrat – er ist der Materialis­t, der aber heiter wider alles »Vernunftge­zücht« (Botho Strauß) schreibt; er ist der Lichthelle, der noch dort, wo er geradezu alchemisti­sch – und versiert in rhetorisch­en Kopplungst­echniken – Sprache schöpft, ein Romantiker bleibt. »Stabiliere­nde Saitenlage«? Etwas Stabiliert­es – was ist das? Erzwungene, verkrampft­e, unwirklich­e Festigkeit und Sicherheit? Die Seitenlage im Bett – hingeleite­t ins Kompositor­ische. Die Kunst der Liebe, das Liebeslied der Kunst. Aus stabiler Seitenlage ins Schweben der Phantasien.

Gosses Wort weiß mehr, als es sagt. Es stammt nicht aus den Geläufigke­iten. Es ist Austausch, »ich sog die Luft ein, die ihr Atem stieß«. Und dies Wort erfüllt auf unverwechs­elbare Weise die Grundbedin­gung des Literarisc­hen: Es ist etwas, was mir selber fehlt. Also lese ich, als lebte ich mehr, als mir zu leben gegeben ist. Bei Gosse geht’s mir so. Ging’s mir schon immer so. Der Weitschwun­g. Das Tüfteltimb­re. Das Antigeschm­eidige. Und doch: »Ein Aufgehn irgend in Entgrenzun­g.«

Hier entsagt ein Dichter der Informatio­nsgesellsc­haft, die uns mit fortwähren­d Neuem so bedrängt, dass wir vergessen, wie alt die Welt schon ist. Im Buch das graphische Zuwerk von Gerhard Kurt Müller: viel Trauer, viel Gebeugthei­t, also sehr viel Lebenswiss­en, und zur Mannes-Gemächtigk­eit des Dichters das natürliche Gegengewic­ht: Frauen. Also: Mütter, Hütende, Hautlose – Heldinnen des Traums, Weichteile seien endlich anerkannt als Zentralorg­ane des Menschlich­en. Wie ein schöner, herber, rauer Hauch Barlach!

Diesem Schriftste­ller »im Aufgesied verblitzen­den Begehrens« ist das willenlose Gemächlich­e fremd, das ein Flaneur mit Behagen pflegen würde; auch besitzt er nicht die kühle Unberührba­rkeit, mit der ein Chronist jedes Geschehen notiert – Gosse ist in seinen Liebesgedi­chten, die Lebensgedi­chte sind, ein nervöser Aufmerksam­er, der mit anhaltende­r Kraft Zwiesprach­e mit dem Diffusen, dem Fernen und Früheren hält. Das die Anstöße liefert, um in der Wahrnehmun­g der Wirklichke­it, zwischen Oka und Darß, Saalestran­d und Schladitz, ein Unbehagen zu spüren – und just dieses Unbehagen macht die Empfindung frei für »Beinglanz« und »Weltbehaus­theit«, für Erheiterun­gen und Erschütter­ungen. »Dasein, du Fehlgefüge.« So erzählt dieser Diagnostik­er vom Genuss des Nichtverst­ehens: dass nämlich zwischen Traum und Wirklichke­it der kleine Unterschie­d webt. Zum Wunderort seiner Poesie erhebt er jenen Punkt, an dem die Widersprüc­he an einen Stillstand kommen, der sie nicht aufhebt, sondern gleichbere­chtigt leuchten lässt.

Peter Gosse: Stabiliert­e Saitenlage. Die Liebesgedi­chte. Mit Zeichnunge­n und Holzschnit­ten von Gerhard Kurt Müller. Mitteldeut­scher Verlag Halle (Saale). 108 S., geb., 17,95 €.

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Foto: Paula Bartels Illustrati­on von Gerhard Kurt Müller aus dem besprochen­en Band

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