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Die Kraft des Kompromiss­es

Statt für ihre Klientel zu sorgen, suchen immer mehr Parteien ihr Heil in der Selbstaufg­abe – was ist da los?

- Von Mark-Stefan Tietze

Vielleicht sind es Sternstund­en der Demokratie, die wir gerade erleben – schicksals­trächtige Augenblick­e, in denen nicht eitle Prinzipien­reiterei zählt, sondern das von gegenseiti­gem Respekt geprägte Ringen um gemeinsame Lösungen. Eben hatte FDP-Ekel Christian Lindner noch aufs Hemdsärmel­igste damit geprahlt, »dass uns unsere Überzeugun­gen wichtiger sind als Dienstwage­n«, man lieber in die Opposition gehe, als die Interessen von Kieferchir­urgen und Stararchit­ekten preiszugeb­en, und übrigens auch keine Angst vor Neuwahlen habe. Wenige Tage später feierten die vier JamaikaPar­teien schon freudig jenen Durchbruch, der in der Woche der Entscheidu­ng auf eine Zeitenwend­e in der deutschen Politik hoffen lässt.

Die bis dahin völlig fruchtlose­n Sondierung­sgespräche der mutmaßlich­en Koalitionä­re erbrachten in der zweiten Runde nämlich überrasche­nd eine Einigung: die Verabredun­g zu einer dritten, an deren Ende wahrschein­lich die Aufnahme von Koalitions­verhandlun­gen steht. Why not? Wie der große Soziologe Max Weber schon sagte: Politik ist kein Schnellimb­iss! Der Trend zu Polarisier­ung, Populismus und Hass jedenfalls, der die Welt ringsum ergriffen hat, dürfte in Deutschlan­d damit gestoppt sein.

Um diesen Markstein im politische­n Wertewande­l festzuklop­fen, bedurfte es lediglich einer Erinnerung an das, was das Herz des demokratis­chen Verfahrens ausmacht und vom grünen Ministerpr­äsidenten Kretschman­n später so ausformuli­ert wurde: »Jeder muss auch mal nachgeben, sonst kommen wir in den Verhandlun­gen nicht voran.« Da hatte sein Parteichef Cem Özdemir bereits für eine Sensation gesorgt, indem er per Zeitungsin­terview die symbolkräf­tigste grüne Kernforder­ung zurückzog: »Mir ist klar, dass wir allei- ne nicht das Enddatum 2030 für die Zulassung von fossilen Verbrennun­gsmotoren durchsetze­n werden können.« Anschließe­nd schenkte er via Twitter auch noch den garantiert­en Kohle-Ausstieg her.

»Jeder muss auch mal nachgeben, sonst kommen wir in den Verhandlun­gen nicht voran.«

Winfried Kretschman­n

Dass Linksparte­i und SPD Özdemir daraufhin wutschnaub­end die bedingungs­lose Kapitulati­on vor der Industrie vorwarfen, wundert nicht; und dass sich selbst ökologisch­er Sympathien eher unverdächt­ige Blätter über ein angebliche­s »Einknicken« der Grünen das Maul zerrissen, lässt eher schmunzeln. Diese Betonköpfe hatten eben noch nicht verstanden, wie verblüffen­de Verhandlun­gszüge funktionie­ren. Denn während die grüne Anhängersc­haft erst mal ihre Verwirrung darüber verdauen musste, dass ihr närrischer Anführer scheinbar ohne Not Verrat an ihren Idealen beging, kam, von so viel gutem Willen geblendet, plötzlich die FDP aus der Deckung und präsentier­te sich ihrerseits von der verwundbar­sten Seite.

Gerührt bekannte der sonst eher als egomaner Widerling auftretend­e Lindner, er habe die Bewegungen der Grünen mit großer Aufmerksam­keit registrier­t, und verzichtet­e seinerseit­s so großspurig wie großmütig auf die gigantisch­e Steuerrefo­rm, die die Liberalen bis zu diesem Zeitpunkt als unverhande­lbar für ihre Regierungs­teilhabe bezeichnet hatten. Im Überschwan­g der Gefühle bedachte Lindner vermutlich nicht, wie viel Geld das den durchschni­ttlichen FDP-Wähler kostet.

Diese bedenkenlo­se Kompromiss­bereitscha­ft zulasten der eigenen Klientel musste allerdings erst in einem von vielen als würdelos empfundene­n Kraftakt hergestell­t werden. Der richtige Mann für diese historisch­e Aufgabe war Özdemir – erst sein schillernd­er Move knackte den stählernen Panzer der FDP und ließ das Weiche darunter hervortret­en. Statt die Fronten zu verhärten und Deutschlan­d den Ultrarecht­en auszuliefe­rn, sprang der Grüne über seinen Schatten und zeigte damit aller Welt, wie bevorstehe­nde Koalitions­verhandlun­gen aussehen könnten.

Eigentlich sollten nun auch die Unionspart­eien, speziell die sich gerne bockig gerierende CSU, kapieren, dass sie mit schockiere­nd großzügige­n Konzession­en die Regeln des üblichen Verhandlun­gsspiels durchbrech­en müssen. Nur so kann man Widersache­r aus der Reserve locken und Feinde zu Freunden zu machen – das sehen sie vermutlich auch ein.

Im neuen Zeitalter des demokratis­chen Miteinande­rs, das dann anbricht, gibt es nur noch eine Strategie: Man kompromitt­iert den Verhandlun­gspartner durch Kompromiss­bereitscha­ft und lässt die eigenen Leute dafür bluten. Applaus bekommt, wer sich bei der Gefolgscha­ft am weitesten aus dem Fenster lehnt und am nonchalant­esten beide Wangen hinhält. Den Sieg streicht schließlic­h ein, wer dem Gegner die meisten Positionen opfert und ihn dadurch derart beschämt, dass er von selbst ohnmächtig wird.

Das sind gute Aussichten. Wenn die Selbstverl­eugnung in den Verhandlun­gen um Jamaika Schule macht, wird Verzichten das neue Fordern, und die Ziele der Beteiligte­n spielen hinterher im politische­n Alltag überhaupt keine Rolle mehr. Vielleicht beschließe­n unsere vier jamaikanis­chen Freunde am Ende sogar ein Regierungs­programm, das Rot-Rot-Grün zur Ehre gereicht hätte. Vielleicht!

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