Die Kraft des Kompromisses
Statt für ihre Klientel zu sorgen, suchen immer mehr Parteien ihr Heil in der Selbstaufgabe – was ist da los?
Vielleicht sind es Sternstunden der Demokratie, die wir gerade erleben – schicksalsträchtige Augenblicke, in denen nicht eitle Prinzipienreiterei zählt, sondern das von gegenseitigem Respekt geprägte Ringen um gemeinsame Lösungen. Eben hatte FDP-Ekel Christian Lindner noch aufs Hemdsärmeligste damit geprahlt, »dass uns unsere Überzeugungen wichtiger sind als Dienstwagen«, man lieber in die Opposition gehe, als die Interessen von Kieferchirurgen und Stararchitekten preiszugeben, und übrigens auch keine Angst vor Neuwahlen habe. Wenige Tage später feierten die vier JamaikaParteien schon freudig jenen Durchbruch, der in der Woche der Entscheidung auf eine Zeitenwende in der deutschen Politik hoffen lässt.
Die bis dahin völlig fruchtlosen Sondierungsgespräche der mutmaßlichen Koalitionäre erbrachten in der zweiten Runde nämlich überraschend eine Einigung: die Verabredung zu einer dritten, an deren Ende wahrscheinlich die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen steht. Why not? Wie der große Soziologe Max Weber schon sagte: Politik ist kein Schnellimbiss! Der Trend zu Polarisierung, Populismus und Hass jedenfalls, der die Welt ringsum ergriffen hat, dürfte in Deutschland damit gestoppt sein.
Um diesen Markstein im politischen Wertewandel festzuklopfen, bedurfte es lediglich einer Erinnerung an das, was das Herz des demokratischen Verfahrens ausmacht und vom grünen Ministerpräsidenten Kretschmann später so ausformuliert wurde: »Jeder muss auch mal nachgeben, sonst kommen wir in den Verhandlungen nicht voran.« Da hatte sein Parteichef Cem Özdemir bereits für eine Sensation gesorgt, indem er per Zeitungsinterview die symbolkräftigste grüne Kernforderung zurückzog: »Mir ist klar, dass wir allei- ne nicht das Enddatum 2030 für die Zulassung von fossilen Verbrennungsmotoren durchsetzen werden können.« Anschließend schenkte er via Twitter auch noch den garantierten Kohle-Ausstieg her.
»Jeder muss auch mal nachgeben, sonst kommen wir in den Verhandlungen nicht voran.«
Winfried Kretschmann
Dass Linkspartei und SPD Özdemir daraufhin wutschnaubend die bedingungslose Kapitulation vor der Industrie vorwarfen, wundert nicht; und dass sich selbst ökologischer Sympathien eher unverdächtige Blätter über ein angebliches »Einknicken« der Grünen das Maul zerrissen, lässt eher schmunzeln. Diese Betonköpfe hatten eben noch nicht verstanden, wie verblüffende Verhandlungszüge funktionieren. Denn während die grüne Anhängerschaft erst mal ihre Verwirrung darüber verdauen musste, dass ihr närrischer Anführer scheinbar ohne Not Verrat an ihren Idealen beging, kam, von so viel gutem Willen geblendet, plötzlich die FDP aus der Deckung und präsentierte sich ihrerseits von der verwundbarsten Seite.
Gerührt bekannte der sonst eher als egomaner Widerling auftretende Lindner, er habe die Bewegungen der Grünen mit großer Aufmerksamkeit registriert, und verzichtete seinerseits so großspurig wie großmütig auf die gigantische Steuerreform, die die Liberalen bis zu diesem Zeitpunkt als unverhandelbar für ihre Regierungsteilhabe bezeichnet hatten. Im Überschwang der Gefühle bedachte Lindner vermutlich nicht, wie viel Geld das den durchschnittlichen FDP-Wähler kostet.
Diese bedenkenlose Kompromissbereitschaft zulasten der eigenen Klientel musste allerdings erst in einem von vielen als würdelos empfundenen Kraftakt hergestellt werden. Der richtige Mann für diese historische Aufgabe war Özdemir – erst sein schillernder Move knackte den stählernen Panzer der FDP und ließ das Weiche darunter hervortreten. Statt die Fronten zu verhärten und Deutschland den Ultrarechten auszuliefern, sprang der Grüne über seinen Schatten und zeigte damit aller Welt, wie bevorstehende Koalitionsverhandlungen aussehen könnten.
Eigentlich sollten nun auch die Unionsparteien, speziell die sich gerne bockig gerierende CSU, kapieren, dass sie mit schockierend großzügigen Konzessionen die Regeln des üblichen Verhandlungsspiels durchbrechen müssen. Nur so kann man Widersacher aus der Reserve locken und Feinde zu Freunden zu machen – das sehen sie vermutlich auch ein.
Im neuen Zeitalter des demokratischen Miteinanders, das dann anbricht, gibt es nur noch eine Strategie: Man kompromittiert den Verhandlungspartner durch Kompromissbereitschaft und lässt die eigenen Leute dafür bluten. Applaus bekommt, wer sich bei der Gefolgschaft am weitesten aus dem Fenster lehnt und am nonchalantesten beide Wangen hinhält. Den Sieg streicht schließlich ein, wer dem Gegner die meisten Positionen opfert und ihn dadurch derart beschämt, dass er von selbst ohnmächtig wird.
Das sind gute Aussichten. Wenn die Selbstverleugnung in den Verhandlungen um Jamaika Schule macht, wird Verzichten das neue Fordern, und die Ziele der Beteiligten spielen hinterher im politischen Alltag überhaupt keine Rolle mehr. Vielleicht beschließen unsere vier jamaikanischen Freunde am Ende sogar ein Regierungsprogramm, das Rot-Rot-Grün zur Ehre gereicht hätte. Vielleicht!