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Neid unter Nachbarn

Frankreich­s Fußball hat einen enormen Sprung gemacht – dank vieler starker Talente

- Von Frank Hellmann, Köln

Frankreich­s Nationaltr­ainer Didier Deschamps kann aus einem Talentpool schöpfen, der fast noch reichhalti­ger als in Deutschlan­d ist. Im Hinblick auf die Fußball-WM 2018 stimmt die Mischung. Didier Deschamps kennt die Empfindsam­keiten der französisc­hen Seele zur Genüge. Wer als Kapitän der Équipe Tricolore vor knapp zwei Jahrzehnte­n selbst den WM-Pokal in die Höhe reckte und damit das Selbstwert­gefühl einer ganzen Nation erhöhte, der weiß auch, wozu der Fußball taugt. Und erst recht ein Länderspie­l gegen Deutschlan­d. Selbst wenn heute bloß eine Freundscha­ftspartie ansteht, hat Frankreich­s Nationaltr­ainer versichert: »Wir fahren nach Köln, um zu gewinnen.« Wer bitte hat denn der DFB-Auswahl die letzte Niederlage zugefügt?

Gefühlt lag sich die ganze Grande Nation in den Armen, als am 7. Juli 2016 ein historisch­er Makel getilgt war. 2:0 im EM-Halbfinale gegen den Erzrivalen. Das quälende Trauma besiegt. »Soif de revanche« (Durst nach Rache) hatte die »L’Equipe« jene Mission betitelt, die Deschamps’ Schütz- linge mit einer Mischung aus Verbissenh­eit, Hingabe und Glück erfüllen sollte. Eigenschaf­ten, die der deutschen Elf damals in Marseille abgingen. Zum EM-Triumph hat es für die französisc­hen Fußballer zwar nicht gereicht, aber wer weiß, wofür das im Hinblick auf die WM 2018 in Russland letztlich gut war.

Bei der WM 2014 in Brasilien hatten wie so oft die Deutschen noch das Stoppschil­d aufgestell­t. Es war damals das erste Turnier des 2012 installier­ten Trainers Deschamps – Kollege Joachim Löw war da bereits ein ganzes Stück weiter. Frankreich schied im Viertelfin­ale aus, weil Mats Hummels früh ein Tor köpfte, und Manuel Neuer spät die Hand gegen einen Schuss von Karim Benzema ausstreckt­e. Für 2018 scheint auf einmal aber alles möglich. »Horizon bleu«, blauer Horizont, heißt es bei den Meinungsma­chern der »L’Equipe« über die prächtigen Perspektiv­en von Stürmer Antoine Griezmann und Co.

Tatsächlic­h hat Deschamps die Mannschaft mit vielverspr­echenden Zutaten auf die nächste Stufe geführt: Sie wirkt gefestigte­r und ballsicher­er, dominanter und variabler als noch bei der EM. »Mit ihm ist Frankreich­s Mannschaft wieder zu einer Nation geworden, die zählt«, begründete Verbandspr­äsident Noël Le Graët kürzlich die vorzeitige Vertragsve­rlängerung mit Deschamps, der als Spieler meist unbemerkt den Strateges hinter dem Ballstreic­hler Zinedine Zidane gab. Ein Ausrufezei­chen gegen den Weltmeiste­r würde die Weiterentw­icklung unter dem 49Jährigen nun noch unterstrei­chen.

Deschamps schöpfte schon während der souveränen WM-Qualifikat­ion aus einem bemerkensw­erten Talentpool. »Frankreich hat viele herausrage­nde Spieler, die allesamt top ausgebilde­t sind, schnell und athletisch«, lobt Joachim Löw. Neid gehört gewiss nicht zu den Charakterz­ügen des Bundestrai­ners, aber seine Anerkennun­g für die Qualitäten französisc­her Jungstars ist verbürgt. Nicht zuletzt hatten jene Spieler auch kräftigen Anteil daran, dass der vergangene Transferso­mmer derart entartete. Die vom FC Barcelona gezahlten 105 Millionen Euro Ablöse für den derzeit verletzten Ousmane Dembélé und die im nächsten Jahr für Paris St. Germain fälligen 180 Millionen für Kylian Mbappé sind nur die Spitze.

Sieben junge Franzosen sind jüngst zu deutschen Erstligist­en gewechselt, darunter vielverspr­echende U21-Na- tionalspie­ler, die im Nachbarlan­d bessere Entwicklun­gsmöglichk­eiten sehen als in der Heimat oder in England. Vorbei die Zeiten, dass Profis erst im Herbst der Karriere einen Wechsel wagten wie einst Jean-Pierre Papin oder Johan Micoud. Nun drängt die junge Garde über die Grenze, und Nationalsp­ieler Mats Hummels lobte die sprudelnde Talentquel­le im Nachbarlan­d: »Die Franzosen haben eine unfassbare Breite bei den jungen Spielern. Auf dem Niveau habe ich so etwas selten gesehen.«

Mit Corentin Tolisso und Kingsley Coman trainieren zwei Nationalsp­ieler Frankreich­s im Verein täglich an seiner Seite. RB Leipzig sicherte sich langfristi­g die Dienste der Talente Dayot Upamecano, Ibrahima Konaté und Jean-Kevin Augustin, in Dortmund verteidigt Dan-Axel Zagadou, auf Schalke stürmt Amine Harit. Sie alle wollen es irgendwann bis zu Deschamps bringen. Ein Abwehrspie­ler vom Aufsteiger VfB Stuttgart hat dies gerade geschafft. Benjamin Pavard durfte am Freitag gegen Wales (2:0) debütieren. Gegen Deutschlan­d kommen wohl diejenigen zum Zuge, die ein bisschen mehr Erfahrung mitbringen. Denn dafür ist solch ein Spiel in Frankreich immer noch zu wichtig.

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Foto: imago/Moritz Müller Die Wachablösu­ng? Paul Pogba (2.v.l.) gewann mit Frankreich das EM-Halbfinale 2016 gegen Mesut Özil, Leroy Sane und Mario Götze (v.l.).

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