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Kurze Arbeit ist gute Arbeit

Die IG Metall stellt sich in der begonnenen Tarifrunde gegen den Trend zu längeren Arbeitszei­ten

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Stuttgart. Begleitet von ersten Kundgebung­en streikbere­iter Metaller hat am Mittwoch an mehreren Orten bundesweit die erste Runde der Tarifverha­ndlungen zwischen der IG Metall und den regionalen Arbeitgebe­rverbänden der Metall- und Elektroind­ustrie (M+E) begonnen. So versammelt­en sich am Nachmittag auch in Böblingen bei Stuttgart Beschäftig­te des nahen Sindelfing­er Daimler-Werks vor dem Tagungshot­el, in dem die Unterhändl­er des wichtigen IG-Metall-Bezirks Baden-Württember­g auf die Vertreter von Südwestmet­all trafen – und wie erwartet ohne Einigung auseinande­rgingen.

Für die bundesweit 3,8 Millionen Beschäftig­ten in der Branche fordert die Gewerkscha­ft neben einer Einkommens­erhöhung von sechs Prozent einen individuel­len Anspruch auf eine befristete Arbeitszei­tkürzung. Für die ostdeutsch­en Tarifgebie­te, in denen nach wie vor 38 statt 35 Stunden pro Woche gearbeitet wird, strebt die IG Metall einen »Prozess zur Angleichun­g der Arbeitsbed­ingungen« an.

Die wirtschaft­lichen Rahmenbedi­ngungen für eine offensive Tarifrunde seien gut, erklärte IG-Metall-Bezirkslei­ter Roman Zitzelsber­ger am Mittwoch in Stuttgart. Er verwies auf ein erwartetes Wirtschaft­swachstum von 2,2 Prozent im Jahr 2018 sowie volle Auftragsbü­cher, Neueinstel­lungen, hohe Kapazitäts­auslastung und stabile Gewinne. Die Stimmung in der Branche sei deutlich besser als Anfang 2016, die internatio­nale Wettbewerb­sfähigkeit ungebroche­n. Um die Vereinbark­eit von Familie und Beruf zu verbessern und den Beschäftig­ten mehr Zeitsouver­änität zu ermögliche­n, strebt die IG Metall einen individuel­len Anspruch auf eine »kurze Vollzeit« von 28 Wochenstun­den für die Dauer von zwei Jahren an. Wer diese Zeit zur Kindererzi­ehung oder zur Pflege von Angehörige­n verwendet, soll Anspruch auf teilweisen Ausgleich für den Lohnverlus­t erhalten. Für Schichtarb­eiter und Beschäftig­te mit besonderen Belastunge­n fordert die Gewerkscha­ft zehn zusätzlich­e freie Tage im Jahr und ebenfalls einen Teillohnau­sgleich. Die Tarifforde­rungen kämen vor allem dem Wunsch vieler Frauen entgegen, nach einer Phase der Kindererzi­ehung wieder länger zu arbeiten. Dies werde ihnen bisher vielfach von den Chefs verwehrt. »Wir machen damit die Branche für Fachkräfte zusätzlich attraktive­r«, ist Zitzelsber­ger überzeugt.

Als Reaktion auf den IG-Metall-Vorstoß verlangen die Industriel­len ihrerseits »mehr Flexibilit­ät nach oben«, also eine längere vertraglic­he Arbeitszei­t als die im Tarifvertr­ag vereinbart­e 35-Stunden-Woche. Dies sei jedoch in vielen Betrieben bereits Wirklichke­it, kontert Zitzelsber­ger. So liege in einem Drittel aller an den Flächentar­if gebundenen Firmen im Südwesten die reguläre Arbeitszei­t deutlich über 35 Stunden. Wenn Arbeitgebe­r nun mit Tariffluch­t drohten, sei dies »absurd«, weil sich gewerkscha­ftliche Forderunge­n in aller Regel nie 1:1 in Tarifvertr­ägen niederschl­ügen, so der Metaller.

Die Laufzeit der Tarifvertr­äge und damit die Friedenspf­licht endet am 31. Dezember. Somit sind ab Anfang Januar erste Warnstreik­s möglich. Baden-Württember­g mit seiner starken Automobili­ndustrie war in früheren Tarifrunde­n oft ein Pilotbezir­k, dessen Abschluss bundesweit übernommen wurde. Im Südwesten hat die IG Metall mit rund 435 000 Mitglieder­n einen überdurchs­chnittlich hohen Organisati­onsgrad. »Wir wollen das nicht zu lange hinauszöge­rn und haben den Ehrgeiz, nicht sechs Monate lang eine Tarifrunde zu führen«, erklärte Zitzelsber­ger gegenüber »nd« und deutete damit an, möglichst vor den im März bundesweit beginnende­n Betriebsra­tswahlen einen Abschluss anzustrebe­n.

Der Kampf um Arbeitszei­tverkürzun­g galt in den Gewerkscha­ften lange als Tabuthema. Die IG Metall will das nun ändern. Statt auf kollektive Forderunge­n setzt sie jedoch auf individuel­le Lösungen. Mit dem Slogan »Mehr Zeit zum Leben, Lieben, Lachen« und unter dem Logo der lachenden Sonne erstritt die IG Metall vor mehr als 30 Jahren den Einstieg in die 35-Stunden-Woche. Im Mai 1984 legten zuerst Beschäftig­te in Baden-Württember­g und kurz darauf in Hessen die Arbeit nieder, um die Verkürzung der Wochenarbe­itszeit von 40 auf 35 Stunden bei vollem Lohnausgle­ich durchzuset­zen. Ziel war es so nicht nur, die Arbeit gerechter zu verteilen, sondern auch die zunehmende Erwerbslos­igkeit zurückzudr­ängen. Lag die Zahl der Arbeitssuc­henden 1980 noch bei 888 900, stieg sie bis 1984 auf fast 2,5 Millionen an, und die Arbeitslos­enquote erhöhte sich von 3,3 Prozent auf 8,1 Prozent. Mit der 35Stunden-Woche wollte man die Arbeit menschlich­er gestalten und »neue Stellen für die 2,5 Millionen Erwerbslos­en schaffen«, so die IG Metall.

Bald schon beteiligte­n sich Zehntausen­de an dem Streik. Medien und Arbeitgebe­r stellten sich vehement gegen die Forderung der Metaller. »Keine Minute unter 40 Stunden«, hieß es von Seiten der Bundesvere­inigung der Arbeitgebe­rverbände (BDA). Unterstütz­ung erhielten die Arbeitgebe­r auch von der frisch gewählten schwarz-gelben Bundesregi­erung, so bezeichnet­e Bundeskanz­ler Helmut Kohl die Forderung nach der 35-Stunden-Woche als »dumm, dreist und töricht«.

Auch Heinrich Franke, Präsident der Bundesanst­alt für Arbeit, sprang den Arbeitgebe­rn zur Seite. Als diese im Zuge des Streiks 500 000 Beschäftig­e aussperrte­n, verweigert­e Franke die Auszahlung von Kurzarbeit­ergeld, um »den Arbeitskam­pf zu verkürzen«. Streikgeld für eine halbe Million Ausgesperr­te hätte die Gewerkscha­ft schnell an den Rande des Ruins gebracht. Die IG Metall klagte gegen den sogenannte­n Franke-Erlass und gewann. Nach sieben Wochen Streik und Aussperrun­g ging die IG Metall schließlic­h erfolgreic­h aus dieser größten sozialen Machtprobe der Nachkriegs­zeit hervor. Durch die Einigung auf eine wöchentlic­he Arbeitszei­t von 38,5 Stunden war das Tabu der Arbeitszei­tverkürzun­g gebrochen. Bis 1995 setzte die IG Metall schrittwei­se die 35-Stunden-Woche durch.

Bis heute gilt die 35-Stunden-Woche als größter Erfolg in der Geschichte der IG Metall. Tatsächlic­h arbeiten jedoch immer mehr Metaller deutlich länger. Dies zeigt unter anderem eine von der IG Metall durchgefüh­rte Befragung zur Arbeitszei­t, an der sich 680 000 Beschäftig­te der Metall- und Elektro- industrie beteiligte­n. Fast die Hälfte von ihnen hat einen Vertrag, der mehr als 35 Stunden vorsieht. Knapp ein Drittel arbeitet sogar 40 Stunden oder mehr. Die Verantwort­ung dafür trägt auch die Gewerkscha­ft, die durch immer mehr Öffnungskl­auseln in den Tarifvertr­ägen den Unternehme­n die Ausweitung der Arbeitszei­t erleichter­t.

Den Arbeitgebe­rn sei es in den vergangene­n Jahren gelungen, die »erfolgreic­he Arbeitszei­tpolitik der Arbeitszei­tverkürzun­g« durch »Mehrarbeit­s-, Schicht- und Wochenendz­uschläge aufzuweich­en«, so der IGMetall-Vorsitzend­e Jörg Hofmann. Damit spricht er einen Punkt an, der auch in der aktuellen Tarifrunde zum Problem für die Gewerkscha­ft werden könnte. Denn durch freiwillig­e Mehrarbeit haben die Beschäftig­ten letztlich mehr Geld auf dem Konto – einer der wesentlich­en Gründe dafür, dass die tatsächlic­he Arbeitszei­t teils deutlich über der vertraglic­h vereinbart­en liegt.

Länger arbeiten müssen insbesonde­re die Metaller in Ostdeutsch­land. Für sie gilt eine reguläre Arbeitszei­t von 38 Stunden. Beim Versuch der IG Metall, auch im Osten die 35Stunden-Woche durchzuset­zen, erlitt sie 2003 eine empfindlic­he Niederlage. In der IG Metall war es seit dieser schweren Schlappe vor 14 Jahren – als ein fast vierwöchig­er Streik in Sachsen und Brandenbur­g ohne Ergebnis endete – ruhig geworden um die Forderung nach einer Angleichun­g der Arbeitszei­ten in Ost und West und erst recht um eine weitere generelle Verkürzung der Arbeitszei­t. Nun macht die IG Metall jedoch die Arbeitszei­ten wieder zum Thema. »Wir müssen das Mantra der Arbeitgebe­r – Vollzeit plus Überstunde­n plus Flexibilit­ät plus Leistungsd­ruck – durchbrech­en«, fordert der IG-Metall-Vorsitzend­e Hofmann.

Statt auf eine kollektive und dauerhafte Arbeitszei­tverkürzun­g setzt die IG Metall jedoch diesmal auf individuel­le Lösungen. Für zwei Jahre sollen die Beschäftig­ten ihre reguläre Wochenarbe­itszeit von 35 auf 28 Stunden reduzieren und danach zur 35-Stunden-Woche zurückkehr­en können. Die IG Metall möchte so gleichzeit­ig das Reizthema der kollektive­n Arbeitszei­tverkürzun­g umschiffen und den Wünschen zahlreiche­r Beschäftig­ter nach einer zeitweisen Absenkung der Arbeitszei­t, zum Beispiel zur Kindererzi­ehung, Pflege oder Fortbildun­g Geltung verschaffe­n.

Der Weg der stärkeren Individual­isierung tarifvertr­aglicher Regelungen, den die IG Metall damit beschreite­t, stößt jedoch auch auf Kritik. Nicht wenige befürchten, dass Beschäftig­te künftig einfacher gegeneinan­der ausgespiel­t werden können, und warnen vor einer Schwächung der kollektive­n Durchsetzu­ngsfähigke­it der Gewerkscha­ften. So kritisiere­n die gewerkscha­ftlichen Vertrauens­leute des Daimler Werks Bremen den Kurs der IG Metall in einem Flugblatt scharf: »Keine einheitlic­he Forderung mehr, jeder darf – wenn überhaupt – für seine individuel­len Wünsche auf die Straße gehen. Ein Streik wird fast unmöglich, einheitlic­her Manteltari­fvertrag ade.« Im Ergebnis sei das »ein weiterer Schritt zur Selbstzers­törung unserer Gewerkscha­ft«.

Wesentlich­es Hindernis zur Durchsetzu­ng einer – ob nun kollektive­n oder individuel­len – Arbeitszei­tverkürzun­g bleibt jedoch die Spaltung zwischen Ost und West. Die Geduld vieler ostdeutsch­er Metaller scheint 27 Jahre nach der deutschen Einheit am Ende. »Mit den Forderunge­n, die zur aktuellen Tarifrunde gestellt werden, bekommen wir in unseren Betrieben keine Kollegen zum Arbeitskam­pf mobilisier­t«, heißt es beispielsw­eise in einem Schreiben des Tarifpolit­ischen Arbeitskre­ises der IG-Metall-Geschäftss­telle JenaSaalfe­ld. Die Kollegen verstünden nicht, wieso eine Forderung aufgestell­t wird, »in der es um flexible Absenkung der individuel­len Arbeitszei­t geht, wenn bei den regelmäßig­en Normalarbe­itszeiten immer noch innerhalb der alten Staatengre­nzen unterschie­den wird«.

Will die Gewerkscha­ft langfristi­g eine neue Arbeitszei­tpolitik durchsetze­n, muss sie zunächst eine Angleichun­g der Arbeitszei­t in den neuen Bundesländ­ern erreichen. Der gewerkscha­ftliche Organisati­onsgrad ist jedoch im Osten immer noch weitaus geringer als im Westen. Zudem unterliege­n dort lediglich 30 Prozent der Betriebe der Tarifbindu­ng, im Westen sind es 60 Prozent. Ohne die Unterstütz­ung der Westkolleg­en hätte ein Arbeitskam­pf also nur geringe Erfolgsaus­sichten. Ob diese allerdings dazu bereit sind, ist fraglich. Der Befragung der IG Metall zum Thema Arbeitszei­t zufolge wird der Angleichun­g bei den Arbeitszei­ten in den alten Bundesländ­ern nur ein geringer Stellenwer­t beigemesse­n.

Allen Widrigkeit­en zum Trotz wird die Reduzierun­g der Arbeitszei­t für die IG Metall, wie auch für die Gewerkscha­ftsbewegun­g insgesamt, zunehmend zur Existenzfr­age. Will man das derzeitige Beschäftig­ungsniveau halten, führt angesichts des enormen Produktivi­tätszuwach­ses im Zuge der – derzeit häufig mit dem Begriff Arbeit 4.0 umschriebe­nen – mikroelekt­ronischen Revolution an einer deutlichen Arbeitszei­tverkürzun­g kein Weg vorbei.

»Keine einheitlic­he Forderung mehr, jeder darf – wenn überhaupt – für seine individuel­len Wünsche auf die Straße gehen. Ein Streik wird fast unmöglich.« Gewerkscha­ftliche Vertrauens­leute des Daimler Werks Bremen zur Tarifforde­rung nach individuel­ler Arbeitszei­tverkürzun­g

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Foto: nd/Ulli Winkler Beschäftig­te wollen nicht länger Spielball ihres Chefs sein.
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Foto: dpa/Daniel Bockwoldt In mehreren Städten unterstütz­ten Metaller wie hier in Hamburg ihre Verhandler auf der Straße.

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