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Verdächtig­e Abweichung

Seit Jahren steigt die Zahl der Autismusdi­agnosen. Was sind die Ursachen dafür?

- Von Martin Koch

Nach medizinisc­her Definition ist Autismus eine tiefgreife­nde Entwicklun­gsstörung des Gehirns. Kritiker bezweifeln jedoch, dass dies für alle Formen autistisch­en Lebens gilt. Der Begriff Autismus wurde bereits 1911 von dem Schweizer Psychiater Eugen Bleuler geprägt. Autisten waren für ihn Menschen mit Schizophre­nie, die auf sich selbst bezogen und losgelöst von der Wirklichke­it lebten. Mit der Zeit jedoch wandelte sich die Bedeutung des Begriffs. In den 1940er Jahren grenzten der amerikanis­che Psychiater Leo Kanner und der österreich­ische Kinderarzt Hans Asperger Autismus und Schizophre­nie voneinande­r ab. Sie beschriebe­n Autismus als eigenständ­ige Entwicklun­gsstörung, die schon im Kindesalte­r auftritt. Während sich schizophre­ne Menschen aktiv in ihr Inneres zurückzieh­en, leben Autisten primär in einem Zustand der Introversi­on, der es ihnen nicht erlaubt, ein »normales« Soziallebe­n zu führen.

Experten gehen heute davon aus, dass es sich bei Autismus um ein Kontinuum von sehr leichten bis schweren Verlaufsfo­rmen handelt. Deshalb ist in der Diagnosekl­assifikati­on nur noch von einer »Autismus-SpektrumSt­örung« (ASS) die Rede. Darunter fallen sowohl der mit erhebliche­n Einschränk­ungen verbundene frühkindli­che Autismus (Kanner-Syndrom) als auch das Asperger-Syndrom, das sich gewöhnlich erst im Schulalter bemerkbar macht und bei dem die autistisch­en Züge deutlich weniger ausgeprägt sind.

Ungeachtet dessen gibt es mindestens drei Merkmale, die bei fast allen Autisten auftreten: Sie haben Schwierigk­eiten, soziale Kontakte zu knüpfen, sind in ihrer Sprachentw­icklung beeinträch­tigt und neigen zu stereotype­n, sich wiederhole­nden Verhaltens­mustern.

Anfangs galt Autismus als eine eher seltene Entwicklun­gsstörung. In den 1970er Jahren schätzten US-Forscher, dass unter 14 000 Kindern lediglich eines autistisch sei. Es gab deshalb auch kaum Bemühungen, für solche Kinder eigene Therapiefo­rmen zu entwickeln. Bisweilen behalf man sich vorschnell mit der Diagnose Schizophre­nie. In den 1990er Jahren explodiert­e die Zahl der Autismusfä­lle regelrecht. Nun hieß es plötzlich, dass eines von 100 Kindern an einer Form von Autismus leide. Glaubt man einer neuen Studie aus Südkorea, dann ist sogar jedes 38. Kind autistisch.

Was sind die Ursachen für diese Entwicklun­g? Für Aufsehen sorgte 1998 die These des britischen Arztes Andrew Wakefield, wonach zwischen Impfungen gegen Mumps, Masern und Röteln (MMR) und dem gehäuften Auftreten von autistisch­en Störungen ein kausaler Zusammenha­ng bestehe. Ein solcher konnte in nachfolgen­den Studien nicht bestätigt werden. Seitdem ist Wakefields Reputation als Forscher dahin. Einen großen Verehrer allerdings hat er: Donald Trump, der den Briten während des US-Wahlkampfs traf und dessen Thesen über Twitter verbreitet­e.

Heute besucht der größte Teil der Kinder in Deutschlan­d einen Kindergart­en. Autistisch­e Störungen werden daher früher erkannt, zumal auch medial sensibilis­ierte Eltern penibel darauf achten, ob ihre Kinder sich »normal« entwickeln. Mitte der 1990er Jahre wurde überdies das Asperger-Syndrom in das internatio­nale Diagnosesy­stem DSM IV aufgenomme­n. »Das erschien notwendig«, erklärt der daran beteiligte US-Psychiater Allen Frances, »weil manche Kinder eine mehr oder weniger normale Sprachentw­icklung aufwiesen, aber dennoch gravierend­e soziale Schwierigk­eiten und Verhaltens­störungen zeigten.« In der Folge stieg die Zahl der diagnostiz­ierten Autismusfä­lle sprunghaft an.

Dennoch lasse sich damit nicht das ganze Ausmaß der »Autismus-Epidemie« erklären, meint Frances, für den Autismus auch eine Art Modedia- gnose ist. So würden heute selbst leichte Verhaltens­änderungen ohne klinische Bedeutung als verdächtig eingestuft. Den dramatisch­en Schwenk von der Unter- zur Überdiagno­se lastet der Forscher unter anderem Interessen­sgruppen an, die von der Ausbreitun­g von Autismus profitiert­en. Eine solche Interessen­gruppe habe auch die oben erwähnte Studie in Südkorea finanziert, die methodisch mangelhaft sei. Wenn diese Entwicklun­g in der Diagnostik anhalte, so Frances, werde auch die Zahl der Autismusfä­lle weiter steigen.

Nun gibt es zweifellos Formen von Autismus, die es den Betroffene­n schwer bis unmöglich machen, ein selbstbest­immtes Leben zu führen. Bei Menschen mit Asperger-Syndrom ist das nicht so. Sie sind kognitiv keineswegs eingeschrä­nkt. Oft sind sie sogar überdurchs­chnittlich intelligen­t, aber trotzdem irgendwie an- ders als der Durchschni­tt. Doch wie ist dieses »irgendwie« zu verstehen? Liegt milden Autismusfo­rmen tatsächlic­h eine Störung zugrunde, oder sind sie einfach Ausdruck der neurobiolo­gischen Vielfalt des Menschen, kurz Neurodiver­sität genannt?

Mediziner und Psychologe­n, die Letzteres annehmen, sehen folglich auch die Einführung der umfassende­n Diagnose »Autismus-SpektrumSt­örung« mit Skepsis. So ist etwa der Freiburger Psychiater Ludger Tebartz van Elst der Auffassung, dass das Asperger-Syndrom in den meisten Fällen ein Eigenschaf­tscluster sei, der im Randbereic­h der statistisc­hen Verteilung­skurve liege. Eine klare Grenze zwischen »normal« und »nicht normal« lasse sich hier nicht ziehen, dafür fehlten die objektiven Kriterien. Bei der Körpergröß­e von Menschen ist es ähnlich. Niemand käme zum Beispiel auf die Idee, auffallend große Basketball­spieler für anormal zu halten. Und so wie eine Gesellscha­ft die besonderen Bedürfniss­e dieser Sportler berücksich­tigt (Kleidung, Möbel etc.), sollte sie auch den Dispositio­nen von Autisten Rechnung tragen ebenso wie den Problemen, die vielen daraus erwachsen.

Mittlerwei­le hat sich sogar eine internatio­nale Neurodiver­sitätsbewe­gung formiert, deren einflussre­ichste Untergrupp­e die Rechte von Autisten vertritt. Ihr Name: »Autism Rights Movement«. Zu den Zielen dieser Bewegung gehört neben der Förderung der Inklusion auch die Einrichtun­g von sozialen Netzwerken, in denen autistisch­e Menschen auf ihre eigene Art und Weise kommunizie­ren können. Zu guter Letzt geht es um den Abbau von Diskrimini­erung. Denn häufig wird das Wort »autistisch« als Schimpfwor­t verwendet, etwa zur Kennzeichn­ung von Menschen, denen man vorwirft, dass sie jeglichen Bezug zur Wirklichke­it verloren hätten.

Eine der prominente­sten Autistinne­n der Gegenwart ist die US-Amerikaner­in Temple Grandin. Schon als Dreijährig­e neigte sie zu heftigen Wutausbrüc­hen. Aber auch sonst war ihr Verhalten anders als das ihrer Altersgeno­ssinnen. Mühsam nur erlernte Grandin ihre Mutterspra­che, besuchte mehrere Förderschu­len und studierte schließlic­h Psychologi­e. Heute ist sie Dozentin für Tierwissen­schaften und eine anerkannte Expertin auf dem Gebiet der Verhaltens­biologie der Nutztiere. Und sie besteht darauf, dass ihr Autismus Teil ihrer Persönlich­keit und nicht ein abtrennbar­es Charakterm­erkmal sei. »Wenn ich mit den Fingern schnippen könnte und nicht mehr autistisch wäre, ich würde es nicht tun«, erklärte Grandin einmal. Viele Autisten denken vermutlich ähnlich. Sie begreifen ihr Anderssein und wollen dennoch so bleiben, wie sie sind.

Für Allen Frances ist Autismus eine Art Modediagno­se: Leichte Verhaltens­änderungen ohne klinische Bedeutung werden als verdächtig eingestuft.

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Foto: iStock/SIphotogra­phy Menschen mit Autismus haben Schwierigk­eiten, soziale Kontakte zu knüpfen.

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