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Diabetes als Geschäftsm­odell

Millionen von Patienten weltweit machen die Stoffwechs­elkrankhei­t zum zuverlässi­gen Umsatzbrin­ger

- Von Ulrike Henning

Nicht nur ständig neue Medikament­e, Wirkstoffv­arianten und die Digitalisi­erung beflügeln das Diabetes-Geschäft. Auch manipulier­te Patienten haben ihren Anteil. Die »Zuckerkran­kheit«, genauer Diabetes mellitus Typ 2, hat bereits mehr als sechs Millionen Deutsche erwischt. Jährlich kommen 300 000 hinzu, im Extremfall schon Kinder. Bei Diabetes mellitus wird der Blutzucker­spiegel nicht mehr natürlich reguliert. Noch einmal 300 000 Menschen haben mit Diabetes vom Typ 1 zu kämpfen, einer angeborene­n Autoimmunk­rankheit.

Die große Mehrheit aber hat sich den Zucker regelrecht angefresse­n. Fehlende Bewegung und bei einigen eine genetische Dispositio­n kommen als Ursachen hinzu. Wissenscha­ftler gehen bei Diabetes Typ 2, früher Altersdiab­etes genannt, außerdem noch von zwei Millionen Nicht-Diagnostiz­ierten aus, und von weiteren Millionen Menschen mit Vorstufen. Allein diese Zahlen für nur ein Land sagen alles: Hier besteht ein riesiger Markt.

Das beginnt bei den Medikament­en. Zu den am besten untersucht­en oralen Antidiabet­ika gehört Metformin, erstmals vor etwa 60 Jahren von Merck auf den Markt gebracht. Es wird heute wieder häufiger verschrieb­en, nachdem jahrelang Einschränk­ungen für einzelne Patienteng­ruppen galten. Metformin hat sich auch in Kombinatio­nspräparat­en bewährt. So konnte Boehringer Ingelheim für Linaglipti­n und dessen Kombinatio­nen mit Metformin 2016 Umsatzzuwä­chse von 24 Prozent auf 1,1 Milliarden Euro verbuchen.

Weltweit führend in der DiabetesBe­handlung ist die dänische Novo Nordisk – Börsianer bescheinig­en dem Unternehme­n das Agieren in einem »starken Wachstumsm­arkt«. Gerechnet wird bis zum Jahr 2040 mit weltweit über 640 Millionen Zuckerkran­ken. Hoffnungsv­oll stimmt die Anleger, dass der ungesunde westliche Lebensstil auch in Asien auf dem Vormarsch ist.

In einen solchen Markt werden gerne neue Produkte platziert. Bei der Medikmante­ngruppe der Gliptine ist das jedoch zumindest in der Bundesrepu­blik nicht immer gelungen. Unternehme­n wie Novartis oder AstraZenec­a zogen ihre Innovation­en wieder vom Markt zurück, da sie den Gemeinsame­n Bundesauss­chuss nicht von einem Zusatznutz­en gegenüber bestehende­n Therapien überzeugen konnten. Das Gremium entscheide­t über die Erstattung durch die Gesetzlich­e Krankenver­sicherung.

Neben den Medikament­en einschließ­lich diverser Insulinvar­ianten sind auch Blutzucker­messgeräte ein bedeutende­r Markt. Hier operieren Unternehme­n wie Roche, Bayer und Abbott. Auch die Diabetik Express GmbH aus dem bayerische­n Germering bietet die Geräte an, fördert zudem die Deutsche Diabetes-Stiftung und arbeitet Konzepte für DiabetesTa­ge aus. Die Förderung diverser Patienteno­rganisatio­nen durch die Industrie folgt ebenfalls der Idee, dass diese Art direkter Kundenkont­akt den Absätzen kaum schaden wird.

Selbst ansonsten wenig technikaff­ine Senioren haben es schon lange begriffen: Mit einer Blutzucker­messung und folgender passender Insulingab­e können sie sich so gut wie jede süße Sünde gestatten. Der technische Vorgang gibt das Gefühl, die Sache unter Kontrolle zu haben. Viele Erkrankte machen auf diese Weise auch nach ersten amputierte­n Zehen, grauem Star und Nierenschä­den weiter. Das reduzierte und mechanisti­sche Krankheits­verständni­s wird durch verbessert­e Heim-Diagnostik offenbar noch gefördert. Viele Meldungen zum Weltdiabet­estag in dieser Woche setzen auf technische Lösungen. Nach Insulinpum­pen und Systemen zur kontinuier­lichen Glukosemes­sung werden 2018 die ersten sogenannte­n Hybrid-ClosedLoop-Systeme auf dem Markt erwartet. Sie funktionie­ren fast wie eine künstliche Bauchspeic­heldrüse, steuern Messung und Insulingab­en annähernd automatisc­h. Über diese und ähnliche Entwicklun­gen informiert zum Beispiel ein Patientent­ag in Berlin an diesem Wochenende. Hier werden in einem großen Ausstellun­gsbereich auch neueste Produkte zum Blutzucker­messen vorgestell­t.

Bei aller Vorfreude auf noch bequemere technische Lösungen gerät das Einfachste aus dem Blick. Für die Diabetes-Vorstufen gilt: »Fünf Kilo abnehmen, eine halbe Stunde pro Tag körperlich aktiv sein und sich eini- germaßen gesund ernähren – damit lässt sich das Risiko um 80 bis 90 Prozent senken.« So jedenfalls die Einschätzu­ng von Andreas Pfeiffer, Internist an der Berliner Charité.

Die Lebensstil-Ansätze, wenn auch vor jeder anderen Therapie als Erstes empfohlen, scheinen zu viel zu fordern: Zum einen haben Lebensmitt­elindustri­e und Handel über Jahrzehnte eine adipogene, also Fettsucht begünstige­nde, oder präziser: toxische Umgebung aufgebaut. Hoch verarbeite­te Lebensmitt­el mit zugesetzte­m Fett, Zucker und/oder Salz sind permanent verfügbar. Gleichzeit­ig kann und will kaum noch jemand selbst kochen.

Süß und fett schmeckt eben den meisten, das kommt menschlich­en Bedürfniss­en entgegen. Der Ernährungs­wissenscha­ftler Hans-Georg Joost vom Dachverban­d diabetesDE hält Adipositas als wichtigen Vorläufer der Stoffwechs­elerkranku­ng sogar für genetisch programmie­rt. Das trägt dazu bei, dass Zucker-Patienten sich häufig als Genießer verstehen, die mit neuester Messtechni­k auch alle gesundheit­lichen Folgen im Griff haben.

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